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Amelica – Nicholas Bussmann


„A dialect is a language with an army.” Dieser Satz, der dem jüdischen Sprachforscher Max Weinreich zugeschrieben wird, steht paradigmatisch für die Einzelausstellung des Musikers und Komponisten Nicholas Bussmann, der sich allerdings nicht an Gattungsgrenzen hält, und vermittelt über den Einsatz multimedialer Techniken auch auf dem musealen Parkett zu agieren versteht. Umgekehrt bedeutet das, dass bildnerische Arbeiten hier mehr als sonst üblich über eine entscheidende akustische Dimension verfügen. So ist in dem Youtube-Video, das einen Wikipedia-Eintrag über Weinreich und den eingangs zitierten Satz für Blinde hörbar macht, zunächst nicht viel zu sehen. Ein Vorlesecomputer verwendet modernste Algoritmen, aber nur für die Audiospur. Am unteren Bildrand erscheinen dann automatisch Untertitel für Gehörlose. Interessant wird es bei den Passagen in Jiddisch, an denen die Programme heillos scheitern, wobei sie nonsense produzieren, der das sprachliche Machtgefälle in erstaunliche Klang- und Zeichenformationen umschlagen lässt.
Auch die Besucher der Ausstellung werden mit Zeichensystemen konfrontiert, die ihre rezeptiven Grenzen herausfordern. Schon vorab, am Eingang ins Taxispalais, stellt sich ihnen eine Videoarbeit in den Weg, die auf zwei klobigen Röhrenmonitoren zeigt, wie der Serviceangestellte eines tokiyoter Verkehrsunternehmens einen Neuanfänger in das Repertoire von Gesten und Bewegungen einweist, das bei der Zugabfertigung den optimalen Personenfluss befördern soll. Eine Aufforderung, das Mimetische in der Kommunikation zu beachten, dessen vorbegriffliches Vermögen häufig verkannt wird, und daher unbemerkt instrumentalisiert werden kann? Auch der darauf folgende Akt des Eintritts in die eigentlichen Ausstellungsräume beginnt mit einer Irritation: abweichend von der regulären Ausstellungsroute werden die Besucher durch eine kleine Tür hinter der Cafeteria zu einem Verbindungsgang geleitet, und finden sich nun ohne weitere Hinweise in der Verlegenheit ob sie links oder rechts weitergehen sollen.
Im linken Raum wird man jedenfalls mit dem „Gesellschaftsspiel Wanderdünen" und mit noch mehr zu füllendem Handlungsspielraum konfrontiert. Tische mit Sandkästen fordern dazu auf, selbst zum Akteur zu werden und mit anderen Besuchern unter dem Motto „Build a World!” in einen schöpferischen Dialog zu treten. Zusätzlich zu dem sich unruhig und widersprüchlich bewegenden Schriftzug, der das Motto auf einer LED-Wand anagrammatisch variiert und den fensterlosen Raum nach und nach in verschiedene Farbstimmungen taucht, liegen auch Karten mit subtilen Anregungen auf, sowie eine Auswahl kleiner Objekte (Fundstücke aus den Straßen der Stadt), die quasi als zusätzliche Akteure mit eigener Historie weitere Impulse geben können.
Die Entscheidung für partizipative Werkformen steht in Verbindung mit einer Kritik des künstlerischen Rollenbildes, die der Künstler in einem Video (Etude in bürgerlichen Gefühlen, 2009) auch gegen seine eigenen Konditionierungen wendet, was ihn unter anderem dazu bewog, den „Kottbusser Chor” zu gründen, einer Art repräsentativer Auswahl von Bewohner*innen des gleichnamigen Berliner Platzes, die als Eröffnungsperformance in einem atonalen Sprechgesang internationale Zeitungsmeldungen in abstrakte Klangräume übersetzen. Als Komponist Neuer Musik konzipierte Bussmann dafür ein lockeres Regelsystem, das den Sänger*innen auch Raum für ihre jeweiligen kulturellen Traditionen lässt, ohne freilich in Folklore abzugleiten. In zwei weiteren Räumen sind Kompositionen zu hören, die sich mit trivialer Musik in avantgardistischer Methodik und computerunterstützt auseinandersetzen. Die Mehrkanal Audio-Installation „Amelica”, setzt an einer Sammlung der „besten House-Riffs für Klavier” an, während „Revolution Songs in an AI Environment” zehn historische Revolutionslieder komplexen algoritmenbasierten Variationen unterwirft, die dann wiederum maschinell auf einem Bösendorfer-Flügel abgespielt werden. Karaoke-Displays zeigen dazu die Liedtexte an. So ist etwa die „Internationale” als eine Art dekonstruktive Fuge in 4 Oktaven angelegt, die zwar nach einer 30-minütigen Entwicklung kaum mehr wiederzuerkennen ist, aber dennoch – und umso gespenstischer – nachzuklingen scheint.
Bei den House-Riffs sorgt eine Nebelmaschine für jenes mirakulöse Minimum, das die leere Funktionalität der Architektur erträglich macht. Eine Analogie zu jenem Minimum an kulturellen Spuren, die in den zitierten Melodielinien noch vorhanden sind. Falls noch revolutionäre Bestrebungen irgendwo herumgeistern sollten, oder falls noch ernsthafte Hoffnungen auf eine Aufhebung jener Machtgefälle vorhanden sein sollten, zu deren Artikulation die Musik auch in Zeiten aggressiver Datenströme noch fähig zu sein verspricht, dann scheint hier ein temporärer Ort zu sein, an dem jenes Minimum an kritischer Bewegung vollzogen wird, auf das es ankommen wird.

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Michael Hauffen

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