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Das Potosi-Prinzip


Das mehrschichtige Projekt fragt nach den Ursprüngen des globalen Kapitalismus anhand einer Reihe von Original-Gemälden, die in Lateinamerika mit dem ersten kulturellen Schub der europäischen Eroberer entstanden sind, und bisher von kunsthistorischer Seite eher als Marginalien angesehen wurden. Zusammen mit anderen Dokumenten und Interventionen werden sie einer phantasievollen und ertragreichen Lektüre unterzogen.

Die Silber-Stadt Potosí spielt die Schlüsselrolle eines frühen Brennpunkts der Kolonialmacht, für die die Ausbeutung der Edelmetallvorkommen Priorität hatte. Und erst dieser Zustrom an Kaufkraft versetzte die europäische Ökonomie in die Lage, jene wirtschaftliche Dynamik zu entfalten, die als Basis für Finanzkapital und Industrialisierung bis heute anhält.
Ohne brutale Ausbeutung der Indios wäre dies nicht möglich gewesen. Diese repressive Ordnung dokumentieren die historischen Gemälde anhand detaillierter Darstellungen des Alltags von Potosí oder übersetzen sie in eine christlich geprägte Symbolsprache mit ungewöhnlicher Ausdruckskraft.
Die Frage nach dem darin wirksamen Menschenbild richtet sich von hier aus auch an die Kultur der Gegenwart, wobei die KuratorInnen und die von ihnen eingeladenen KünstlerInnen konsequenterweise das heutige Kunstsystem und seine Institutionen mit in den Fokus nehmen.
Letztlich werden somit die RezipientInnen der Ausstellung mit ihrer eigenen Mitwirkung an einer fortdauernden Beschönigung und Verschleierung von schlechten gesellschaftlichen Verhältnissen konfrontiert. Die faszinierenden Exponate und die erhellenden Erläuterungen dazu können also nicht umstandslos genossen oder als attraktiver Bildungsstoff verbucht werden. Die beteiligten zeitgenössischen KünstlerInnen setzen denn auch ihre künstlerische Arbeit teilweise außerhalb der Kunst als politisches Engagement fort, und bringen es wieder in sie ein: in Form dokumentarischer Displays, die in der Ausstellung einen breiten Raum einnehmen. Heutige globale Brennpunkte ökonomisch begründeter Ausbeutung wie China mit seinen Wanderarbeitern oder Dubai mit seinen übersteigerten kulturellen Ambitionen, werden dabei ebenso thematisiert wie die aktuelle Lage in Argentinien, das seine allgemeine Lebensqualität zunehmend der Sojaproduktion opfert.
Die intellektuelle Herausforderung, die darin besteht, das Puzzle aus verschiedenen Exponaten, Zeiten, Regionen und Konflikten zu einem sinnvollen Gedanken zusammenzusetzen wird durch eine ausführliche „Gebrauchsanweisung” zur Ausstellung unterstützt, die Bestandteil der Eintrittskarte ist und wie ein Reiseführer auf verschlungenen Pfaden von Exponat zu Exponat führt.
So entsteht ein dichtes Geflecht von Dokumenten, Gesten und Verweisen, das dem Anspruch aktueller Neubestimmung eines postkolonialen Standpunktes gerecht wird, und es nicht bei Attitüden oder bloß moralischer Kritik belässt. Allerdings ist zu bezweifeln, ob von diesem Angebot viel Gebrauch gemacht werden wird, da eine angemessene Rezeption ohne erheblichen intellektuellen und zeitlichen Aufwand nicht zu leisten sein dürfte.

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Michael Hauffen

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