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Studien zu einem metatouristischen Kunstführer


Wenn man an die Utopien, Projekte, Nostalgien und Ideen denkt, die in den letzten 30 Jahren für den öffentlichen Raum formuliert wurden, dann muss man heute sicherlich enttäuscht sein. Und zwar nicht so sehr, weil sich diese Träume bis jetzt nicht erfüllt haben, sondern vor allem, weil der Glaube an ihre Erfüllbarkeit mehr und mehr erlahmt ist. Aber es haben sich auch die negativen Visionen von der völligen Zerstörung einer lebendigen Öffentlichkeit bisher nicht erfüllt. Immer noch macht eine Vielfalt von Aktivitäten den städtischen Raum spannend und attraktiv, ohne dass die prekären Grundlagen einer unkontrollierbaren globalen Dynamik abgeschafft wären.
Gilles Deleuze und Félix Guattari antworteten auf eine Realität, die mehr und mehr von konservativen Tendenzen geprägt zu sein scheint, mit der Idee, dass Künstler und Philosophen ein Volk für eine freie Gesellschaft erst herbeirufen müssten. Andernfalls müsste man mit einem solchen Anspruch ja an der allgemeinen politischen Trägheit und den alltäglichen Widerständen verzweifeln. Es mag sein, dass eine außerordentliche Dynamik, die einen solchen Schaffensprozess begünstigen würde, nicht undenkbar ist. Aber man muss kein Fatalist sein um zu sehen, dass die Idee selbst und die sie erst hervorrufenden Erfahrungen ohne spannende städtische Umgebungen – im Fall von Deleuze/Guattari sicherlich in erster Linie das Umfeld von Paris – kaum entstanden wären. Und diese Umgebungen scheinen heute mehr und mehr im Verschwinden begriffen. Laut Ulf Wuggenig zeichnet sich die postmoderne Stadt durch einen Verlust an Zentralität und eine Verflüchtigung der Toleranz aus. Man könnte also leicht den Eindruck gewinnen, dass Provinzialität wie ein Virus sogar die größten und lebendigsten Weltstädte zu infizieren begonnen hat und damit traditionelle kulturrevolutionäre Hoffnungen endgültig ins Reich der Träumerei verweist.
Wer die Suche nach Neuorientierungen dennoch nicht aufzugeben bereit ist, für den könnte es interessant werden, in eher provinziellen Umgebungen, oder solchen, die dafür gelten, mit interventionistischen Praktiken zu experimentieren. Es mag dabei zunächst vernachlässigt werden, in welchem Maß sich eine solche „provinzielle” Struktur als resistent erweist, wenn sie nur überhaupt Reaktionen zeigt, die es erlauben, alternative Strategien und ihre Hindernisse zu konkretisieren.
Tallinn, Salzburg und Maastricht zeichnen sich durch ihre gut erhaltenen und attraktiven Altstädte aus. Das Provinzielle geht hier eine Verbindung mit einer auf Tourismus basierenden Wirtschaft ein. Eine allzu heterogene Vielfalt öffentlicher Erscheinungen würde dabei womöglich im Weg stehen. Andererseits ist heute noch keine Stadt wirklich bereit, sich in einen reinen Themenpark zu verwandeln, in dem die Bürger bloße Statisten wären. Vor allem Tallinn ist abseits der touristischen Altstadt noch eine bedeutende Groß- und Hauptstadt. Aber auch die Regierungen von Salzburg oder Maastricht verfolgen im Konkurrenzkampf der Städte um Standortvorteile noch andere Ziele. Somit bleiben in allen drei Städten im Kontext von Erhaltungsmaßnahmen und ihren konservativen Auffassungen von Kultur noch immer genug Dynamiken und Reibungsflächen, an denen sich ästhetischer Widerstand im Sinne unterschiedlichster kultureller Bedürfnisse festmachen lässt.
Die verschiedenen Aktivitäten des Public-Art-Projekts Trichtlinnburg widmen sich dieser spannenden Aufgabe. Wenn hier nur ein Teil der realisierten Projekte dargestellt und interpretiert wird, so hängt das mit den Aufenthalten des Autors zusammen, der zwar alle drei Städte bereist hat, aber nicht an allen Events teilnehmen konnte. Kontingent sind auch die Gründe für Umfang, jeweilige Färbung und Ausrichtung der Kommentare, die nicht den Anspruch einer objektiven Bewertung erheben.
Vielleicht könnte man die Einheit der einzelnen Portraits im Entwurf einer Perspektive suchen, die aus einer Art von erweitertem Tourismus resultiert. Dessen Prototyp würde sich nicht mehr mit normalen Sehenswürdigkeiten, auch nicht mit aktuellen Skulpturen-Boulevards zufrieden geben, sondern sich auf die Suche nach im öffentlichen Raum aktiven Künstlern oder Forschungsgruppen, bzw. den von ihnen hinterlassenen Spuren begeben.
Kunst-Touristen sind bereits eine bekannte Größe in der Kalkulation von Fremdenverkehrsexperten. Alternativer Tourismus findet ebenfalls zunehmend Beachtung. Warum also nicht den Weg für eine neue Gattung touristischer Unternehmung bahnen? Die Erfahrung mit beispielhaften Projekten kann dann dafür genutzt werden, Potentiale zu sondieren und weitere Differenzierungen zu treffen. Die im Folgenden vorgenommene Einteilung bedeutet allerdings nicht, dass sich mit ihrer Hilfe angewandte Konzepte eindeutig zuordnen ließen. Auch wenn jeweils ein Faktor ausgezeichnet wird, soll mit den Kategorien vor allem das Zusammenspiel verschiedener Aspekte verdeutlicht und lediglich ein bestimmter Zug darin betont werden.
Die vier unterschiedenen Ansätze sind: der dekonstruierende, der interventionistische, der klassisch-moderne und der partizipatorische.
Der klassisch-moderne Ansatz wird zwar nur zweien der vorgestellten Projekte zugeordnet, stellt aber sicherlich die Grundlage für alle Positionen dar, insofern er dafür einsteht, die Autonomie der Kunst als sozialer Funktion öffentlich zu beanspruchen und zu manifestieren.
Der partizipatorische Ansatz ist durch die Erkenntnis motiviert, dass es bei Kunst nicht um fertige Objekte, sondern um die Art ihrer Beobachtung geht, also um sozial konditionierte Kommunikation. Deren Modalitäten setzt er nicht nur voraus, sondern bezieht sie in seine eigenen Operationen mit ein, und versucht sie zu beeinflussen. Häufig ist damit auch eine anti-elitäre Disposition verbunden.
Der interventionistische Ansatz radikalisiert letztere Logik, indem er die Veränderung von kommunikativen Voraussetzungen überraschend herbeizuführen sucht; er tendiert zu einem offensiven Vorgehen, da nur so verfestigte Strukturen überwindbar scheinen, die als Hindernis verstanden werden.
Mit dem dekonstruierenden Ansatz soll jene operative Logik bezeichnet werden, die die herrschenden Meinungen und die repräsentativen Darstellungen sozialer Prozesse auf der Ebene angreift und verschiebt, wo sie vor allem generiert werden, nämlich auf der Ebene der Semantik und der Medien, die diese Semantik kontrollieren. Im letzten vorgestellten Beispiel wird schließlich besonders deutlich, was passiert, wenn dieser Ansatz auf seine eigenen Operationen angewendet wird: die Orientierung an einem vorgegebenen Sinn erfährt Verwerfungen und damit wird die Funktion der Kunst ebenso fragwürdig wie die eines davon abhängigen Tourismus. Übrig bleibt so etwas wie die Erfahrung von Wahrnehmen, Beobachten und Verwerfen als solchem, mit der daraus folgenden Gewissheit, dass soziales Sein ohne das hierin tätige Begehren Nichts wäre.

1. klassisch-moderner Ansatz

Kaarel Kurismaa ”Saturn and Object of blue Light” [Tallinn]

Mit einer zweiteiligen Skulptur in Tallinns neu erbauter Shoppingmall, dem Viru Center, hatte Kaarel Kurismaa in der Konkurrenz zu den vielen Geschäften und Werbedisplays sicherlich von vorneherein keine Chance. Auch die zweite von ihm präsentierte Arbeit in einem Terminal am Hafen, „Object of blue Light”, wirkte verloren und war kaum in der Lage, die Aufmerksamkeit der vorbeikommenden Scharen von Touristen auf sich zu lenken. Deren Aufmerksamkeit war ohnehin, hier wie dort, von anderen Medien okkupiert. Für die Problematik vieler Arbeiten des Projekts Trichtlinnburg kann das Unvermögen von Kurismaas Vorgehensweise als repräsentativ gelten: Es genügt sicherlich nicht, ein Kunstwerk, das im Rahmen einer Galerie oder eines Museums funktionieren mag, einfach an einen anderen Ort zu transferieren. Dem vollkommen verschiedenen Kontext des öffentlichen Raums muss in seiner jeweiligen Eigenlogik Rechnung getragen werden, wenn das Ergebnis eine Wirkung haben soll, die über die Beanspruchung öffentlicher Präsenz hinausgeht.
Interessanter als seine Objekte sind Kurismaas Beiträge zur Publikation „Practices of Tallinn” (s.u.), in denen er die Geschichte einiger Skulpturen im öffentlichen Raum (zur Zeit der Sowjetbesatzung und danach) recherchiert hat.


Gold Extra u.a. „Love City” [Alle drei Städte]


Eines der beiden übergreifenden Projekte war die DJ-Kooperation „Love City”. Dabei wurde folgendermaßen vorgegangen: Einem Team in jeder Stadt wurde die Aufgabe gestellt, aus ihrer Stadt Videos und Audiofiles zusammenzustellen, die repräsentieren sollten, was sie an ihrer Stadt mögen – also keine Tourismusbilder. Dieses Material wurde an alle Städte verteilt Aus diesem Material sollte dann jede der drei eingeladenen Künstlergruppen jeweils ein 10-Minuten-Video mit Soundfile erstellen. So sind drei unabhängige Filme entstanden. In jeder Stadt wurde dann jeweils eines dieser Videos aus einer anderen Stadt als Live-Act vorgeführt.
Vor allem in Maastricht, wo der Live-Act auf dem zentralen öffentlichen Platz stattfand, wurde deutlich, dass diese Kunstform schon aufgrund ihrer Lautstärke Aufmerksamkeit erzwingt und als möglicher Austragungsort von Konflikten dienen kann, die unter der glatten Oberfläche geordneter Verhältnissen gerne verborgen werden.


2. partizipatorischer Ansatz

Stadtraum.org „Artisan limited productions” [Maastricht]

Skulpturen im öffentlichen Raum erfüllen zweifellos soziale Funktionen, auch wenn diese in der Regel ursprünglich nicht intendiert waren. Man benutzt sie nicht nur zur Erinnerung historischer Ereignisse oder um sich ihrer sinnlichen Erfahrung zu überlassen, sondern auch als Treffpunkt, Orientierungsmarke und zum Abstellen von Fahrrädern. Konkretere Ansichten bleiben der subjektiven Phantasie überlassen, sofern man sich nicht mit den Erklärungen von Reiseführern abspeisen lässt. Unter dem Projekttitel „artisan limited productions” unternimmt es die Gruppe Stadtraum.Org allerdings, hier noch eine andere Zugangsmöglichkeit zu erschließen. Indem sie in einer Art Marktstand, der täglich an den wichtigsten Plätzen präsent war, Repliken sämtlicher in Maastricht vorhandener öffentlicher Skulpturen feilboten, die sie zudem vor Ort modellierten, hoben sie den handwerklichen Aspekt und seine Funktion als Basis urbaner Kommunikation und Identität hervor. Das Handwerk stellt nicht nur Produkte her, sondern mit seiner Methodik und seiner Organisation auch ein kulturelles Potenzial dar, dessen Wert in Zeiten globaler Industrialisierung einerseits vernachlässigbar erscheint, andererseits aber für touristische Zwecke simuliert wird. Zu Zeiten seiner Blüte lag dagegen der ganze Stolz der Städte in ihm. So konnte es geschehen, dass Handwerker mächtige Geheimbünde gründeten und wie die Maastrichter „Goatrider” im 18. Jahrhundert die Macht der Kirche mit blasphemischen Ritualen untergruben. Auch in den letzten Jahrzehnten war oft vom subversiven Charakter der Kunst die Rede. Markus Ambach and Andrea Knobloch suchen jedenfalls den Weg direkt zum Publikum, wenn sie ihre – übrigens gründlichen Recherchen vor Ort – nicht in akademischen Institutionen vorstellen, sondern beliebigen Passanten das Gespräch und den Kauf ihrer Objekte (à 25 Euro) anbieten. Eine vielleicht nur marginale, dafür aber deutliche Zurückweisung der üblichen Dominanz von Verwaltern und Experten, die schon lange nicht mehr vorzuhaben scheinen, eine ihnen ausgelieferte Bevölkerung ernst zu nehmen.


Manuela Mitterhuber „Open Art Exchange” [Salzburg]

Alle Salzburger wurden von Manuela Mitterhuber eingeladen, eigene Kunstwerke mitzubringen, die in einem Galerieraum ausgestellt wurden. Wer sich an dieser Aktion beteiligte, wurde außerdem fotografisch erfasst und erhielt eine kostenlose Eintrittskarte für das Museum der Moderne in Salzburg. Damit sollte ein Austausch zwischen ansonsten streng voneinander getrennten Bereichen initiiert werden. Die eingereichten Arbeiten spannten ein breites Spektrum auf, das von amateurhaften Landschaften oder Portraits bis zu avantgardistisch-provokativen Gesten reichte. Insofern hatte die Präsentation zusammen mit dem Konzept ihrer Zusammenstellung ein gewisses Potenzial, erstarrte Konventionen, die die Abgrenzung zwischen Stars und ihrem anonymen Publikum regeln, in Frage zu stellen.


The Video Sisters „Cliffhanger” [Salzburg]

Im angrenzenden Raum wurde ein weiteres partizipatorisches Projekt betrieben. The Video Sisters luden Interessierte ein, es einmal mit einem Casting für eine Rolle in einer beliebten Soap zu versuchen. Anhand einer Auswahl an Rollen und Szenen, von denen eine ausgesucht werden konnte, ließ sich die aktive Beteiligung an der Produktion einer Fernsehserie zumindest ansatzweise erfahren. Für die Mitwirkung stand ein kleiner Fundus an Requisiten und Kleidern bereit, eine Visagistin sorgte fürs Make-up, und zusammen mit Licht, Hintergrund und Kameras war die Studiosituation rundum perfekt. Die aufgenommenen Szenen wurden dann in die jeweilige Folge der Serie anstelle der Originalszene einkopiert, sodass sich die Teilnehmer hinterher ihre Leistung in einem angemessenen Rahmen zu Gemüte führen oder anderen Zusehern am Bildschirm vorführen konnten.


3. interventionistischer Ansatz

Ron Bernstein „Colourfield Parking” [Maastricht]

Ron Bernsteins Projekt hatte zum Ziel, Autofahrer zu Teilnehmern an der Gestaltung einer Ordnung zu machen, die in der großflächigen Zusammenstellung von Farben besteht. Das verwendete Farbmaterial waren dabei die Fahrzeuge, mit denen die Autofahrer in eine Parkgarage fuhren. Normalerweise nach dem Zufallsprinzip verteilt und als Farbanordnung unbeachtet, wurden die Autos nun zum Element einer ästhetischen Formation, als deren Mitschöpfer sich die Autofahrer sehen konnten. Gerade für Autofahrer als solche ist die Erfahrung von Kooperation die große Ausnahme. Während man sich im Straßenverkehr tendenziell feindlich oder konkurrierend gegenübersteht und den anderen als möglichen Angreifer oder gar Bedrohung ansieht, konnte hier die Perspektive eines übergreifenden Kollektivs eingenommen und im Resultat als „Meta-Design” auch genossen werden.
Nicht der unwichtigste Aspekt in der Ästhetik von Autos dürfte der des Monumentalen sein, den die Errungenschaften der Technologie heute für uns annehmen und woran jeder Autobesitzer mehr oder weniger partizipiert. Wir sehen die Produkte des High-Tech als erhabene Objekte an, die uns im Gegenzug zwar in unserem Narzissmus bestätigen, aber auch gegenüber dem „Anderen” isolieren. Bernsteins Performance könnte man unter diesem Aspekt als sozialpsychologische Strategie der Verschiebung von Gewichten sehen: Während der ursprüngliche Narzissmus, der sich im Übrigen hinter der alltäglichen Betriebsamkeit und Funktionsorientierung nur versteckt, durch seine Aktion lediglich ein Stück weit über den Rahmen privaten Besitzes hinaus verlängert, aber gleichzeitig verschoben wird, entsteht ein minimaler Kontakt zum Anderen. So entwickelt sich ein Ansatz von Kommunikation unter kontrollierten Bedingungen und könnte womöglich (wenn auch natürlich entsprechend dem kleinen Experiment nur minimal) als positive Erfahrung die Voraussetzung für weitere Experimente mit dem Verlassen des „narzisstischen Käfigs” begründen. Um diesem zu entkommen, muss man bereit und fähig sein, sich als schwach zu erfahren. Gelingt jedoch eine befriedigende Kommunikation unter solcher Prämisse, dann kann sich diese Schwäche als Voraussetzung für etwas erweisen, das keineswegs beängstigend sein muss.


LIGNA „Radioballett” [Salzburg]

Unter dem Titel „Zerstreute TouristInnen” initiierte die Gruppe LIGNA eine kollektive Aktion im Herzen der Tourismus-Stadt Salzburg, genauer gesagt in der Getreidegasse, in der touristische Blicke auf eine typische und idyllische Altstadtszenerie durch die Anwesenheit exklusiver Marken-Repräsentanzen und eine Vielzahl von Souvenirshops quasi überhöht werden. Die zahlreichen TeilnehmerInnen der Intervention, die zu einem großen Teil an örtlichen Hochschulen als Mitwirkende gewonnen worden waren, wurden zunächst an einem Sammelpunkt mit tragbaren Radiogeräten und mit einer Plastiktüte, die weitere Requisiten enthielt, ausgerüstet. In den Radios war ein Sender schon voreingestellt. Dadurch waren die Mitwirkenden mit einem Sendestudio verbunden, von dem aus eines der Mitglieder der Gruppe LIGNA über die Aktion sprach. Mit dem Startsignal aus dem Radio begaben sich schließlich ca. 80 Personen in die erwähnte Gasse.
Dort handelte es sich nun darum, den Anweisungen aus dem Radio folgend, als zerstreute, aber auch im Gedränge dieser Straße auffällige Erscheinung den normalen, und jedem Touristen vertrauten Zustand der Szenerie zu stören bzw. die Touristen zu irritieren. Die ersten Übungen, wie simultanes Stehenbleiben und Weitergehen, oder zur gleichen Zeit mit dem Finger auf vorher ausgewählte Gegenstände in der Straße zeigen, mögen von den Außenstehenden noch unbemerkt geblieben sein, da sie in größeren Reisegruppen zunächst ähnlich ablaufen können. Sie dienten aber bereits dem Sich-vertraut-Machen mit der Teilnahme an einer solchen kollektiven Aktivität. Später gingen die Anweisungen in eine härtere Gangart über, etwa wenn alle Teilnehmer gleichzeitig eine Mozartkugel langsam und ostentativ verzehrten, oder schließlich beim abschließenden Höhepunkt, wo sich alle auf die in ihrer Tüte befindlichen Plastikmatten legten und die touristische Konvention des langsamen Schlenderns oder Stehenbleibens endgültig und radikal brachen.


Transparadiso (Barbara Holub / Paul Rajakovics) „Wunschfreischaltung schlüsselfertig” [Salzburg]

Gegenstand der kritischen Interventionen von transparadiso (Barbara Holub / Paul Rajakovics) ist die Tatsache, dass in der Salzburger Altstadt viele Ladenlokale leer zu stehen pflegen. Als Folge- oder Randphänomen indiziert dieser Umstand eine Grenze von Wirtschaftsaktivitäten, die hier stark durch den Tourismus geprägt sind. Was der Tourismus auf der einen Seite im Überfluss produziert, nämlich exklusive Marken-, Urlaubsartikel- und Souvenirshops sowie gastronomische Betriebe, macht sich als Verdrängung auf der anderen Seite bemerkbar, wenn nämlich Güter des alltäglichen Bedarfs gebietsweise kaum erhältlich sind und für alternative Warenangebote wenig Chancen bleiben.
In diese Lücke zielt das Projekt „Wunschfreischaltung”. Zunächst wurde eine Reihe von leer stehenden Läden ausfindig gemacht und durch ein poppiges Poster, das in die Schaufenster tapeziert wurde, im Stadtraum markiert. In manchen Straßen konnte man den Eingriff wegen der Menge leerstehender Geschäfte kaum übersehen. Auf einem eigens produzierten Stadtplan wurden diese Lokalitäten in der Übersicht markiert.
Außerdem parkte das von transparadiso konzipierte Indikatormobil vor einem leeren Geschäft. Es diente als Informationsstelle, temporäre Radiosendestation, mobiles Kino und mobile Bar. Die Besucher wurden dort aufgefordert, sich eine Wunsch-Nutzung für einen leer stehenden Laden zu überlegen.


4. dekonstruierender Ansatz

Verschiedene Autoren „Tallinna Praktikad (Practices of Tallinn)” [Tallinn]

Die Vorüberlegungen von Lina Siib als Kuratorin und Mare Pedanik als Direktorin des Tallinner Beitrags zu Trichtlinnburg resultierten vor allem in der Zurückweisung einer Beschränkung ihres Konzepts auf die Tallinner Altstadt, wie das etwa von der Stadtverwaltung gerne gesehen worden wäre. Ihr vorrangiges Anliegen war es, den touristischen Fokus zu relativieren. Tallinn ist keine idyllische Altstadt mit vielen Kneipen, sondern vor allem eine Großstadt, die sich über ein Gebiet mit einem Radius von ca. 30 Kilometern erstreckt.
Um ihre Sicht der Stadt zu manifestieren, entschieden sich die Projektplanerinnen für ein netzwerkartiges Arrangement von Beiträgen. Zunächst wurden eine Menge von Informationen und Kommentaren zur Stadt Tallinn, die man als Tourist nicht erhalten würde, in einem informativen Heft unter dem Titel „Practices of Tallinn” zusammengetragen. In Ergänzung dazu stand das Angebot, an Ausflügen zur Erkundung und Recherche vor Ort teilzunehmen. Verschiedene Touren, die für alle Interessierten offen waren, führten bis in die Randgebiete und die teilweise verwahrloste Natur rund um Tallinn. Eine der Fahrradtouren erkundete etwa die vor der Stadt liegende Halbinsel, die während der russischen Besatzung vollkommen von Militär okkupiert war. So konnten sich manche Tallinner nun – zumindest symbolisch – ein Territorium aneignen, von dem aus die besondere Lage ihrer Stadt überhaupt erst erkennbar wird. Eine andere Tour ermöglichte von einem Schiff aus Blicke auf einen weitläufigen Badestrand östlich des Zentrums, der bis vor 15 Jahren ausschließlich für Russen reserviert war. Der große Jachthafen gleich daneben befindet sich inzwischen bereits in Privatbesitz. Außerdem erfuhr man hier Einiges über die jüngste Geschichte von küstennahen Bauvorhaben, und die damit verbundenen Auseinandersetzungen.
In dem zusätzlich zusammengestellten Filmprogramm wurde man – neben z.B. architektonischen Besonderheiten einer modernistischen Wohnstadt an der Peripherie – auf weitere kulturgeschichtlichen Implikationen der Sowjet-Ära aufmerksam gemacht. So gab es einen Film, in dem versteckt aufgenommene Kaffeehausbesucher der 60er Jahre zu sehen waren, die die angeblich noch heute auf der estnischen Kultur lastende Melancholie einer gelähmten Gesellschaft zu zelebrieren schienen.


Pia Lanzinger „Ein Stück vom besten Österreich (Made in USA), Folge II: Eine Bustour durch die touristisierten Szenarien von ‚The Sound of Music’” [Salzburg]

Bereits vor drei Jahren hatte Pia Lanzinger in Salzburg eine Arbeit über den Film „The Sound of Music” und seine touristische Verwertung bei Sound-of-Music-Bustouren produziert und gezeigt. Dieses Thema ist von einer Reihe von Widersprüchlichkeiten und Paradoxien gekennzeichnet. Vor allem besteht nach nun schon ca. 40 Jahren Erfolgsgeschichte des Films noch immer wenig Bekanntschaft mit und Interesse für diesen Film in der Salzburger Bevölkerung, während ein Großteil der Touristen, die Salzburg besuchen, dies allein deshalb tun, um die Originalschauplätze des Films in Augenschein nehmen zu können.
Lanzingers Beitrag für Trichtlinnburg nutzte nun das Medium der Bustour, die den TeilnehmerInnen die Erfahrung des originalen Massenprodukts bot. Zwischen die typischen Erläuterungen, die von zwei professionellen Tour-Guides (einem amerikanischen und einem österreichischen) gegeben wurden, waren jedoch eine Reihe abweichender Statements eingestreut, die tiefere Einblicke in diesen Mythos, seine Ausprägungen und seine Vermarktung erlaubten.
„The Sound of Music” erwies sich dabei als ein Musterbeispiel für das Phänomen der „imaginären Geographie”. Eine fiktive Realität, die durch das Zusammenspiel medialer Inputs konstruiert wurde, wird dabei durch die Präsentation originaler Schauplätze bestätigt und bekräftigt, indem jegliche das homogene Bild störende Information ausgeblendet bleibt. Die ”Sound-of-Music-Stadt” passt das Angebot für die Gäste aus den USA und anderen filmbegeisterten Ländern an deren Traumbilder an, und nicht umgekehrt – ein Schritt hin zu einer Art Disney-Themenpark.

Michel Dector und Michel Dupuy „Tour” [Maastricht]

Wie auch in Bezug auf die Projekte in Tallinn festgestellt werden konnte, erfreuen sich von Künstlern konzipierte Führungen kleiner Gruppen durch städtische Gebiete, die Wege abseits des offiziellen Mainstreams beschreiten, zunehmender Beliebtheit. Michel Dector und Michel Dupuy halten sich dabei besonders nah an die Vorlage einer geführten Touristengruppe, indem sie ebenfalls die üblichen Sehenswürdigkeiten ansteuern. Umso größer ist dann die Irritation, wenn sie mit der gleichen Geste des Besonderen und der gleichen vulgärwissenschaftlichen Attitüde der Entschlüsselung von Bedeutungen völlig banale Gegebenheiten in ihren Diskurs einbeziehen. In Maastricht hielten sie sich lange mit gemeißelten Grabinschriften auf, aber ebenso lange mit in Steinwände eingeritzten Sprüchen von anonymen Besuchern dieser Orte. Sie erstellten vor Ort von beiden Zeugnissen Abriebe und gingen dann daran, die Geschichte der jeweiligen Tafeln zu rekonstruieren, wobei sie im letzteren Fall von einem Alltagswissen Gebrauch machten, das vermutlich selten eine derartige Würdigung erfahren hat. Analog zu diesen Kritzeleien wurden abgestellte Flaschen und Gläser sowie an verschiedenen Orten platzierte Kaugummis eingehend betrachtet und besprochen. Höhepunkt des Rundgangs dürfte eine Serie von drei eng nebeneinander geklebten Kaugummis gewesen sein, die als präzise Reihung eine bewusste Beteiligung anonymer Akteure, wenn nicht sogar eine bestimmte Absicht, womöglich sogar künstlerischer Natur, erahnen ließen.
Die Strategie Dectors und Duypuys ist vergleichbar derjenigen eines Marc Augé in der Anthropologie. Sie wendet einen bestimmten, auf Außergewöhnliches oder Exotisches gerichteten Blick zurück in die Umgebung dessen, der sich als externer Beobachter versteht. Wenn man in der Soziologie fordert, ein Forscher dürfte mit dem sozialen Objekt, das er erforscht, nicht zu eng und nicht zu entfernt vertraut sein, da er sonst nicht unbefangen urteilen könne, dann trifft das auch hier zu. Wenn es in der Wissenschaft in solchen Fällen zu Deformationen des Dargestellten kommen kann, da entweder die Phantasie des Forschers zu sehr ins Gewicht fällt oder seine eigenen Interessen, so bewirkt diese Art von Kurzschließung im Fall der Maastricht-„Tour” eher einen komischen Effekt. Man weiß, dass das Triviale trivial ist, aber man erfährt, dass andere Mittel auf seine Beobachtung angewendet, diese Trivialität ebenso in Frage stellen wie die Nicht-Trivialität der „Sehenswürdigkeiten”. Das stellt eine Ordnung der Dinge in Frage, deren Grundlage durch ihre karnevalistische Verkehrung – wenn auch nur kurzfristig –erschüttert werden dürfte.


Silja Saarepuu und Villu Plink „Platz” [Tallinn]


So manche erinnerte Szene hat niemals stattgefunden, aber auch wenn es bloße Phantasie ist, beherrscht sie ihre Subjekte. Und sie müssen nun immer wieder Situationen aufsuchen, deren Sinn es ist, jene „Erinnerung” vorauszusetzen und damit gleichzeitig erneut zu bestätigen. So oder so ähnlich könnte man den Freud’schen Begriff der neurotischen Urszene umschreiben. Und man könnte diese Gedankenfigur auf jene Highlights des Tourismus anwenden, zu denen auch die Altstadt von Tallinn zählt.
Die Symptomatik: Während die einen das mit dieser fixen Idee verbundene Leiden im Alkohol ertränken, versuchen die anderen durch zwanghaftes Fotografieren die ihnen selbst bei klarem Bewusstsein unmögliche Erfüllung ihres Begehrens an unschuldige Apparate zu delegieren.
Setzt man diese – vielleicht etwas kühne – Theorie als richtig voraus, dann könnte die Installation „Platz” von Silja Saarepuu und Villu Plink als Versuch aufgefasst werden, die Urszene nachzustellen, um die von der Obsession Geplagten zu befreien. Ihre Installation besteht aus einer drei Meter hohen Panoramadarstellung des zentralen Platzes von Tallinn, die sich in der Mitte eben dieses Platzes befindet und einen Durchmesser von etwa sieben Metern aufweist. Das Panorama wiederholt aber nicht einfach die Fassaden der vielen Gebäude, die diesen Platz umrahmen, sondern es zeigt sie gereinigt von all den Details, die Zeichen ihrer Vermarktung als Objekte einer touristischen Invasion sind. Weder Menschen noch Reklametafeln oder auch nur die Namen der Lokalitäten, die die Gebäude heute beherbergen, sind zu sehen.
Was übrig bleibt, ist die Sehenswürdigkeit in Reinform oder das Modell selbst. Hier vor dem Panorama ist klar, dass es sich um eine fiktive Kulisse handelt, auch wenn viele der Eintretenden zunächst gar nicht erkennen, worin der Unterschied liegt. Man begreift jedoch vielleicht, dass der wirkliche Platz nur der steinerne Beleg für einen Gegenstand ist, dessen Bedeutung sich anderswo konstituiert. Und man verlässt diesen virtuellen Raum befreit und in dem Bewusstsein, dass der Tourismus den Zugang zu den begehrten Schauplätzen mindestens ebenso verstellt wie er sie zugleich erschließt.


Zuzana Lapitková „Jeanne van Eyck” [Maastricht]

Symptomatisch für eine Kunst im öffentlichen Raum, die sich an den Ansprüchen der Avantgarde ausrichtet, ist ihre geringe Wirkung bezogen auf die breite gesellschaftliche Wirklichkeit. Dies wird vor allem von Seiten der Beteiligten gerne verkannt, was um so leichter fällt, als die Kunst einen privilegierten diskursiven Ort einnimmt, wo sie kommentiert und zitiert wird, während die breite Masse, auch mangels geeigneter Ausdrucksmöglichkeiten, zur bloßen Abwehr oder zum schweigenden Zusehen mehr oder weniger verurteilt ist. Die eigentliche Avantgarde konnte wohl in keinem Fall den Schritt aus dem Museum heraus mit wirklichem Erfolg machen. Erst durch verschiedene Adaptionen popkultureller Zeichen und Gewohnheiten änderte sich die Resonanz im öffentlichen Raum. Aber auch hier dürfte klar sein, dass es sich, parallel zur Erweiterung des Kreises von Personen, die begannen die Museen zu frequentieren, um eine klar abgrenzbare Schicht von Interessierten handelte, während sich andererseits das Interesse, mit dem die Kunst wahrgenommen wurde, in Richtung auf ihren Unterhaltungswert verschob.
Hier liegt der Ansatzpunkt für die Entscheidung einer Reihe von KünstlerInnen, sich in den kulturellen Kontext weniger privilegierter Schichten einzuschalten, um dadurch deren Interesse für künstlerische Ideen zu wecken, oder einfach nur, um im Sinne der Anti-Kunst die Grenzen zwischen Elite und dem ausgegrenzten Rest der Gesellschaft zu überschreiten.
Mit vermutlich ähnlicher Intention ist es Zuzana Lapitková gelungen, an einem noch heute von den Maastrichtern gepflegten Brauch – Umzüge mit Riesen-Puppen in der Stadt – mit der Kreation einer eigenen Figur teilzunehmen. Ihre „Jeanne van Eyck” verbindet das feministische Motiv, eine Art neue Heldin zu inaugurieren, mit dem Brückenschlag zu einer sonst in Maastricht weithin unbekannten Institution, der „Jan van Eyck Academie”, deren Name auf diese Art quasi in den offiziellen Diskurs eingeschmuggelt wird. Nachdem der Bürgermeister die Puppe eingeweiht und die niederländische Kulturministerin als Ihre Patin fungiert hat, fällt ein Teil des Segens auch auf die Akademie, die ansonsten nur wenig öffentliches Interesse genießt.
Die neue Figur bestand übrigens nur aus einem überdimensionalen Kopf aus Pappmaschee, der im Unterschied zu den „Riesen” größer und irrealer wirkt und damit die Distanz zwischen Kunst und Kunstgewerbe auch visuell andeutete.


Sanja Ivecovic „(If) I lived here” [Alle drei Städte]

Ivecovics drei Videos folgen einem einheitlichen Muster: im Wechsel folgen auf Teile aus touristischen Werbefilmen Szenen aus Amateuraufnahmen, die auf Einladung der Künstlerin von verschiedenen Gruppen oder Privatpersonen zur Verfügung gestellt wurden. Die Amateuraufnahmen wurden gezielt so ausgewählt, dass sie die Illusionen, die die Werbevideos hervorrufen, unweigerlich wieder zerstören. Zu sehen sind hier vornehmlich Straßenszenen mit Leuten, die wenig attraktiven Beschäftigungen nachgehen; in der Tallinn-Version werden zumeist Straßenkehrerinnen und Straßenkehrer bei ihrer letztlich absurd wirkenden Bemühung beobachtet, den allgegenwärtigen Schmutz zu bekämpfen. Um den Gegensatz zwischen den beiden antagonistischen Bestandteilen der Videos noch zu verschärfen, läuft bei den offiziellen Partien jeweils perfekte klassische Musik, während die Amateuraufnahmen gnadenlos lautstark den O-Ton der Handkameras wiedergeben, in dem Straßenlärm und Nebengeräusche dominieren.
Der Rhythmus, in dem die Teile einander abwechseln, ist zwar nicht konstant, Ausnahmen von der Zehn-Bis-Zwanzig-Sekunden-Regel werden aber als solche deutlich und intensivieren quasi den Refrain-Charakter des Hin und Her. Wer für beide Seiten dieses emotionalen Wechselbades empfänglich ist, wird vermutlich lachen müssen. Die Reaktion wäre also vergleichbar einer kabarettistischen Darbietung, in der Anspruch und Wirklichkeit ebenfalls im Tempo von schnellen Witzen einander aufheben.


Julius Deutschbauer und Gerhard Spring „bauMaxx” [Salzburg]

Auf die problematische Immobiliensituation in der Salzburger Innenstadt bezieht sich auch die angekündigte Eröffnung einer Filiale der österreichischen Baumarktkette „BauMax-x”, wobei das zweite „x” den entscheidenden kleinen Unterschied markiert. Zunächst wurde dazu ein Plakat gedruckt, das zur freien Entnahme auflag und in den betroffenen Altstadtzonen plakatiert war. Die Autoren der Aktion, die Künstler Julius Deutschbauer und Gerhard Spring, sind darauf bei einer Art Einweihungszeremonie zu sehen, die vor der Kulisse Salzburgs und umgeben von den Insignien der Firma Baumax stattfindet. Hinter den beiden Künstlern ist zudem, als eine Art väterlicher Schirmherr, der wirkliche Besitzer dieser Baumarktkette, Karlheinz Essl, zu sehen. Spätestens bei der „Eröffnungs”-Performance, die die Künstler vor einem leer stehenden Ladenlokal in Form einer kabarettistischen Rede absolvierten, wurden dann die verzweigten Assoziationsketten deutlich, die mit dieser Bildmontage quasi emblematisch zusammengefasst werden sollten.
Karlheinz Essl ist nicht nur Unternehmer, sondern auch einer der wichtigsten österreichischen Kunstsammler. Die Künstler machten sich nun die Diskrepanz zwischen einem zwar konservativen, aber auch idealisierten Kunstanspruch, den dieser verkörpert, und der Realität einer populären Ästhetik zunutze, wie sie mehr oder weniger offensichtlich mit dem Konsum von Baumarktprodukten verbunden ist. Durch die Auswahl des dort angebotenen Designs und die Namensgebung der Produkte werden nicht selten nationalistische oder rassistische Einstellungen mitverkauft, ohne dass dies besonders auffiele, was – nebenbei bemerkt – mit der üblichen touristischen Logik konform geht. Deutschbauer und Spring strichen diese „Grammatik” durch Übertreibungen und Gegenüberstellungen heraus. Im Gegenzug regten sie eine „Do-it-yourself-Aufarbeitung der Heimatgeschichte” an und konzipierten dafür geeignete Baumarkt-Utensilien wie das „Aquarium Vision Österreich”, das Einblicke in die Veränderung des EU-staatlichen Territoriums mit einer Erweiterung des Raumbegriffs verbindet, oder das Freilaufgehege „Belvedere”, das am Beispiel von Meerschweinchen die Verwandtschaft von Stummvieh und Stimmvieh zu erkunden erlaubt.


Nikolaus Gansterer „RE:Sound of Music”[Maastricht]

Zu dem Vorhaben, den Film „The Sound of Music” in künstlerisch-subversiver Form zu konterkarieren, wurde als vorläufiges Fragment ein Trailer vorgeführt. Er hält sich zunächst an das übliche Schema der Ankündigung eines großartigen Werkes, wobei er parasitär von der Bedeutung des kommentierten Originals profitiert, wenn er etwa einen Film ankündigt, der für 10 Oscars nominiert ist, und dabei mit einer Verwechslung spielt. Neben aggressiv verfremdeten Zitaten aus dem Heimatfilm ist in den Trailer noch eine gefilmte Film-Performance eingebaut: Vor dem Hintergrund einer berühmten Sing-Szene des Films („do-re-mi”) sind der Künstler und eine Kollegin zu sehen, wie sie sich den Mitgliedern der singenden Gruppe im Originalfilm anschließen, und ebenfalls einzeln aufstehen und zu singen beginnen.


Geoffrey Garrisson „Trichtlinnburg Regional Specialty”[Maastricht]

Eine der Strategien, den stereotypen touristischen Raum zu irritieren, der sich über ein möglichst homogenes Bild vermeintlicher typischer und origineller Eigenschaften des jeweiligen Ortes generiert, besteht in der dieses Bild störenden Intervention durch Hinweise auf dabei verdeckte, widersprüchliche bzw. heterogene Eigenschaften. Solche Demaskierungen sind vielleicht umso überraschender, als sie nicht an den offiziellen Repräsentationen touristischer Images ansetzen, sondern an jenen eher alltäglichen Begebenheiten, die dieses Image stützen und von ihm profitieren, die sich als Selbstverständlichkeiten gerieren.
So werden zum Beispiel die Gerichte, die in einem „typischen”, also für den Tourismus konzipierten Lokal angeboten werden, versuchen, dem Bild, das sich der Tourist von diesem Ort bereits gemacht hat, zu entsprechen. Das fängt bei den verwendeten Zutaten an und reicht bis zu den Rezepten und Namen der Gerichte.
Geoffrey Garrisson entwickelte für diesen Kontext eine eher unspektakuläre Abweichung von der Norm. Er kreierte ein Gericht, das sich aus Bestandteilen traditioneller Rezepte der drei Städte Maastricht, Salzburg und Tallinn zusammensetzte. Während der Dauer der Trichtlinnburg-Tage in Maastricht konnten die Besucher eines Restaurants kostenlos dieses Gericht bestellen. Es handelte sich dabei um gekochten Schweineschinken mit einer speziellen Sahne-Kümmel-Zwiebel-Sauce, der mit Kartoffelsalat und frischen Löwenzahnblättern serviert wurde.
Es wurde also eine neue Spezialität für einen Ort geschaffen, der bisher auf der Landkarte touristischer Reisepläne noch nicht vorhanden war. Trotz dieser offensichtlichen Innovation und der damit verbundenen Möglichkeit das touristische Programm zu erweitern, weigerten sich die meisten Lokale am Vrijdhof, das Gericht und die dazu vorgesehene Informationskarte ihren Gästen anzubieten. So blieb es wieder einmal den Eingeweihten (und im Besonderen dem Autor) vorbehalten, diese Gelegenheit zum Genuss einer einzigartigen Spezialität zu ergreifen.


Nils Norman „Deformed Hoarding”[Maastricht]

Aufgestellt wie ein Bauschild, aber eben „deformed”, wie der Titel schon sagt, ist Nils Normans Beitrag zudem etwas kleiner und durch seine Nähe zu den am Rand des Platzes befindlichen Bäumen auch weniger auffällig als es Bauschilder normalerweise sind. Dafür geht Norman mit skurrilem Humor an seine Thematik, den öffentlichen Raum und seine dunklen Seiten, heran. Wegen der relativ komplexen Anspielungen und der in diesem Fall auch eher miniaturisierten Bildelemente ist allerdings einige Lektüreanstrengung erforderlich um diesen Witz zu erkennen und einige Phantasie nötig, um ihn mit den Vorder- und Hintergründen heutiger Realität des öffentlichen Raums in Beziehung zu setzen. Wenn man nicht wie der Autor in der glücklichen Lage ist, andere Arbeiten des Künstlers bereits zu kennen, muss man vermutlich die Grammatik dieser mit einem digitalen Zeichenprogramm generierten Bildsprachelemente erst verstehen lernen.
Hat man diese Hürden aber einmal überwunden, dann lassen sich folgende Aussagen entschlüsseln: Das Schild als Ganzes hat in etwa die Form eines Farbkleckses, dessen Farbe noch flüssig war, als sie aufgetragen wurde, und deshalb in mehreren „Rotznasen” herunterläuft. Zwischen den abgebildeten Objekten auf dem Schild findet sich eine Plakatfläche, die ebenfalls „Rotznasen” und zudem die Aufschrift „Super Creative Core” aufweist. Man kann dies daher als Zeichen kreativen Ausbruchs interpretieren, in dessen Dynamik schon mal etwas daneben geht oder eben noch nicht trocken ist, wenn es aufgestellt wird. Aber der Künstler bremst die hiermit häufig verbundene Euphorie wieder ein, wenn er aus der Form des ganzen Schildes ein großes Loch genauso herausschneidet, dass dieses nun stark an einen Totenkopf erinnert. Kann kreativer Eifer tödlich sein? Immer wieder scheint der Künstler jedenfalls die bedrohlichen und unheimlichen Seiten starken Neugestaltungsdrangs herausstreichen zu wollen.
Vor dem erwähnten Bild einer Plakatwand mit der Aufschrift „Super Creative Core” befindet sich allerdings eine Parkbank und könnte Ruhe und Entspannung suggerieren. Nur sind hinter ihr noch andere Schilder versammelt und erwecken zusammen mit grafischen Wabbelzonen den Eindruck, dass diese Ruhe nicht lange halten und das Sitzen auf der Parkbank ein inadäquates Verhalten gewesen sein wird, wenn die sich andeutenden Veränderungen einmal Realität geworden sind.
Deutlicher in Bezug auf unheimliche Entwicklungen, die nicht nur in der Zukunft zu erwarten, sondern bereits rückblickend zu verzeichnen sind, wird die zweite dargestellte Konstellation. Diesmal ist es eine Plakatwand mit Aufschrift „Multiple Degenerative Utopia”, die durch die öde Leere der grafischen Objekte, mit denen sie weiter unten illustriert ist, an die konzeptuellen Schwächen moderner Architektur und Stadtplanung denken lässt. Das Gegenüber dieser Plakatwand ist hier eine der merkwürdigsten Skulpturen, die sich im öffentlichen Raum von Maastricht finden lassen. Es handelt sich um ein kaum noch als solches erkennbares Pferd, das sich in kubistischer Übertreibung vor lauter Verzückung in seinen Verrenkungen aufzulösen scheint; man kann es aber auch als ein Objekt auffassen, das zufällig beim Bleigießen entstanden ist. Auch diese alienartige Skulptur scheint unter ihrem Sockel von der noch frischen Farbe eines künstlerischen Exzesses zu triefen und bestätigt somit erneut den fatalen Zusammenhang von kreativem Eifer und verfehlter Gestaltung.
Die dritte und umfangreichste Gruppe von Objekten schließlich zeigt einen jener Treppenabgänge, wie sie auf vielen Plätzen unserer Städte, und so auch vom Vrijthof aus, und zwar genau neben dem von Norman aufgestellten Schild, nach unten in eine Tiefgarage oder Ähnliches führen. Die Treppe ist – ebenfalls übereinstimmend mit dem Vrijthof – umgeben von Pflastersteinbelag, der allerdings teilweise unfertig oder wieder aufgebrochen zu sein scheint. Es handelt sich also offenbar bei der hier abgebildeten Szenerie um einen Ort, an dem sich noch kreative Impulse austoben. Verschiedene Lagen von Strukturen lassen sogar vermuten, dass hier Überreste alter beziehungsweise erste Resultate neuer Planungen nicht mehr zu unterscheiden sind. Eine verwirrende Situation also, in der auch der Hinweis der dazugehörenden Bautafel, der das Areal als „Bohemian Sector” ausweist, nur davon zeugt, dass zwar Absichten bestehen, die begüterten Schichten in exklusiven Zonen vom Rest der Welt zu isolieren, aber den Zweifel daran, dass die ersehnte Zufriedenheit eine dauerhafte Form annehmen wird, eher vertiefen dürfte.
Insgesamt wäre die „deformierte Bautafel” also geeignet, den verbreiteten Glauben, wonach Kreativität, Erneuerung und Ordnung direkte Garanten eines besseren Lebens wären, zu erschüttern und aus der Destruktion solcher vermeintlicher Gewissheiten sogar noch unmittelbaren Lustgewinn über den Lacheffekt zu ziehen. Ihre Wirkung entfaltet diese subtile Form von Dekonstruktion sicherlich hervorragend in Gegenwart eines städtischen Ambientes wie dem des Vrijthof, der anschauliche Beispiele für viele der „Risiken und Nebenwirkungen” bereithält, die mit perfekter Stadtplanung verbunden zu sein pflegen.
Sie nimmt sich aber auch selbst nicht von den vorgeführten Unternehmungen und ihrer Logik der Zielverfehlung aus. Damit wird auch der exklusive Kreis von Passanten, die mit Inhalt und Form dieser subtilen Darstellung etwas anfangen können, in die negative Dynamik miteinbezogen, von der er vielleicht mehr amüsiert als fasziniert ist. Sofern diese Konsequenz gezogen wird, sieht sich der Beobachter mit einem seiner eigenen blinden Flecken konfrontiert. Das könnte ein günstiger Moment sein, um selbst kreativ zu werden!

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Michael Hauffen

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