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Abstraktion als System


Mein Vortrag, wird ausgehend von der Ausstellung, in der wir uns befinden [Heimo Zobernig], danach fragen, woran man sich gegenwärtig in der Kunst orientieren könnte.
Es wäre sicher unsinnig Prognosen zu formulieren oder Programme für die Zukunft aufzustellen. Wenn es dennoch eine These gibt, auf die meine Überlegungen hinauslaufen, dann könnte sie vielleicht kurz zusammengefasst so lauten: Das Kunstsystem stellt eine gesellschaftliche Disposition dar, die durch andere soziale Gefüge nicht ersetzt werden kann. Es geht dabei vor allem um die Erschließung von Ressourcen für alternative Sensibilität und für normüberschreitende Kreativität.

Soweit diese Voranzeige. Ich beginne nun mit der Darstellung der Situation, die sich aus unserer Anwesenheit an diesem Ort und in dieser Ausstellung ergibt.

[Vortragssaal]

Wir befinden uns hier in einem Vortragssaal. Der Vortragssaal ist ein Kunstwerk. Dieser Vortrag, ist als Bestandteil des Kunstwerks konzipiert. Also sind auch wir selbst Bestandteil dieses Kunstwerks. Wir wollen beobachten, was uns das Kunstwerk damit sagt.
Wir erkennen die einzelnen Teile und deren Bezüge. Wir schließen auf eine Inszenierung. Die Inszenierung betrifft die Rollenverteilung, die im Spiel der Kunst vorausgesetzt zu werden pflegt. Die Rollen heissen: Gegenstand beziehungsweise Werk – Ausstellung oder auch Rahmen, Institution, Kontext – und Betrachter oder auch Publikum bzw. Beobachter. Die Rollenverteilung soll vergegenwärtigt, ironisiert oder sogar abgeändert werden. Die Positionen werden zum Gegenstand einer systematischen Verwechslung. Vielleicht stehen hier die Zuschauer im Mittelpunkt, bildet die Institution das Publikum und geben die installierten Gegenstände den Rahmen ab, der die Beobachtung dirigiert? Natürlich tun sie das nicht in letzter Eindeutigkeit. Aber das Werk ist hier jedenfalls nicht bloß ein ästhetisches Objekt. Es bezieht die Vorstellungen, mit denen die Betrachter an es herangehen, in seine illusorische Konstruktion mit ein. Das führt zu einem Spiel mit umverteilten Rollen, und mit den Formen, in denen die von den Rollen bestimmte Wirklichkeit als konstruiert erkannt werden kann. Und dabei spielt vor allem eine anschließende Überlegung eine Rolle: wenn wir Teil dieses Kunstwerks sind, dann beobachtet es jetzt sich selbst. Und wenn die Ausstellung als Kunstwerk zu verstehen ist, dann kommt sie in sich selbst wieder vor; die Ausstellung ist dann zugleich das Ausgestellte.
Solche Formen der Selbstreferenz, die je nachdem auf Paradoxien oder Tautologien hinauslaufen, produzieren einen Zustand der Unsicherheit. Es wird unklar, wo man sich gerade befindet, wenn man den Verhältnissen nachgeht. Befindet man sich in der Ausstellung oder im Ausgestellten, betrachtet man das Werk oder wird man vom Werk, und das kann auch heissen: von den anderen Betrachtern betrachtet? Das Spiel mit derartigen Operationen der Grenzverletzung ist in der Gegenwartskunst keine Ausnahme. Vielleicht ist es sogar schon so normal, dass es anfängt zu langweilen. Aber jedenfalls verweist es auf Unsicherheiten und Unbestimmbarkeiten, wie sie auch ausserhalb dieses Einzelfalls auffallen.
Bevor ich nun versuchen werde, die Vermutung weiterzuverfolgen, dass wir solche Arten von Unsicherheit benötigen, wenn wir das Potential unserer modernen Lebensbedingungen ausschöpfen wollen, möchte ich mich noch an dem Spiel, das hier gespielt wird, beteiligen: ich erkläre hiermit, dass es in meinem Vortrag nicht darum geht, etwas zu interpretieren, sondern darum, durch meine Aussagen, dieses Kunstwerk, einschliesslich seiner Betrachter, als Testgelände zu benützen für Experimente der Selbstbeobachtung. Es geht mir also auch nicht um Betrachtung von aussen, sondern um die Erprobung vorhandener Grenzen und Möglichkeiten.

Die Herausforderung zu einem solchen Spiel wird durch das Werk selbst formuliert. Man kann sagen, es sei nur ein Gedankenspiel. Auf jeden Fall ist das Spiel als Kunst Teil einer sozialen Praxis, an der wir teilnehmen. In diesem Spiel geht es um Wahrnehmungen von Situationen, die für genau diese Wahrnehmungen geschaffen und konzipiert wurden. Mitspielen bedeutet, selbst die Wahrnehmungen anderer zu beeinflussen. Das tun wir permanent, wenn wir über Kunst sprechen, sie als Zeichen benützen oder selbst Kunst produzieren.
In der Reflexion der sogenannten Postmoderne werden die vielfältigen Möglichkeiten sichtbar, die aus solch einer pluralen Beteiligung und Beeinflussung entstehen. Allerdings scheint dabei alles beliebig und unentscheidbar zu werden. Woran soll man sich noch halten, wenn sich die Objektivität in viele graduell unterschiedliche Perspektiven und Strategien auflöst?
In dieser Situation und gestützt auf einige Ansätze der Systemtheorie halte ich es für aussichtsreich, sich auf die Beobachter zu konzentieren.

Beobachter konstituieren sich durch Beobachtungen. Beobachtungen sind Operationen, die sowohl Wahrnehmung als auch Bezeichnung, und damit Handlung beinhalten. Beobachter sind also aktiv und passiv zugleich.
Wenn ich den Beobachtern so große Bedeutung beimesse, grenze ich mich ab von einer Sichtweise, die hierarchischen Systemen verpflichtet ist. Dort werden Beobachter nur ausnahmsweise und nur dann beobachtet, wenn es sich um Superbeobachter oder um ihre Kopien handelt, deren Beobachtungen mit dem Anspruch auftreten können, solche von oben her geordneten Systeme zu repräsentieren.

[Beobachter - Netzwerke von Systemen]

Die Beobachter also – Beobachter sind Systeme, die Unterscheidungen und Bezeichnungen treffen und verarbeiten. Sie konstituieren sich nicht über Identität, sondern über Differenz.
Damit entsprechen sie einem Systemtyp, dessen Entdeckung relativ neu ist. Man spricht von heterarchischen Systemen, und denkt dabei an Netzwerke von heterogenen und selbstbestimmten Systemen.
Sie beziehen sich aufeinander, ohne dass dazu eine zentrale Kontrollinstanz nötig ist, und organisieren sich durch mehr oder weniger zufällige Nachbarschaften und durch rekursive Verknüpfung von Beobachtungen.
Weil die Vielzahl der entstehenden Verknüpfungen von keiner zentralen Instanz kontrolliert wird, stellen sie auch keine Überlastungsgefahr dar, sondern machen im Gegenteil die dimensionale Überlegenheit dieses Systemtyps aus.
Systeme in diesem Sinn sind wir beispielsweise auch selbst, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Wir können unterscheiden zwischen uns als Bewusstseinssystem bzw. psychisches System und uns als neurophysiologisches System.

Um über diesen Systemtyp Interessantes zu erfahren, genügt es nicht, seinen Aufbau zu beschreiben, oder seine Logik aus seinen Grundelementen zu entwickeln; man muss mit ihm experimentieren.

In diesem Sinn frage ich mich, ob der Rahmen dieser Veranstaltung und die Tatsache, dass sie Teil eines Kunstwerks ist, dazu führen kann, den Vortrag als etwas wahrzunehmen, dessen Inhalte unwesentlich sind gegenüber seiner Materialität, also des Rituals als solchem, des Zusammenkommens einer Anzahl von Leuten, usw. Vielleicht wäre dazu noch mehr inszenatorischer Aufwand erforderlich, zumindest möchte ich es aber freistellen, meine relativ lineare Argumentation als untergeordnet zu betrachten, und sich auf das Geschehen hier im Raum als Ganzes zu konzentrieren.
Diese Absicht könnte ebenfalls der „Lesung mit verteilten Rollen” zugrundegelegen haben, die im September hier stattgefunden hat. Vermutlich hat der Effekt, den ich meine, dort besser funktioniert, weil die Texte nicht von ihren wirklichen Autoren gelesen wurden. Man konnte dort jedenfalls beides tun: Sich auf die Texte und ihre Aussagen konzentrieren oder sich von der direkten und mechanisierten Wahrnehmung der Sprache distanzieren, und die Situation als leicht skurriles, mehrdeutiges Spiel beobachten.

[Beobachtung]

Ich komme wieder zurück auf die Frage, was ist eigentlich Beobachtung:
Beobachtung ist zunächst und vor allem Unterscheidung. Die Unterscheidung mit der man anfängt, gibt den ursprünglichen Anstoß zur aktiven Erzeugung von Wirklichkeit durch Fokussierung eines bestimmten Bereichs – und zwar unter Ausschluss der anderen Seite dieses Bereichs. Sie betrifft den schöpferischen Akt, der ein Universum und seinen Beobachter entstehen lässt.
Dasselbe gilt für meinen Vortrag. Auch die Beobachtungen, die ich hier anstelle, und zu deren Nachvollzug ich Sie auffordere, gingen von anfänglichen Entscheidungen aus, die mir gewisse Fortsetzungsmöglichkeiten anbieten oder aufdrängen. Auch wenn ich, wie jetzt in diesem Moment, wieder darauf zurückkomme, also rekursiv operiere, bleibe ich in dem Rahmen, der mit dem Anfang vorgegeben wurde. Ich könnte vielleicht sagen: „Alles noch mal von vorn”, aber das würde die Komplikation nur auf eine zweite Sequenz von Unterscheidungen verschieben, wenn es nicht sogar nur eine besondere Form kontrastierender Weiterverarbeitung der vorher gemachten Erfahrungen wäre.
Allerdings kann ich dann im Rahmen meiner Vorgaben, deren andere Seite schon behandeln. Nur weiss ich deshalb noch nicht wirklich, was anders möglich gewesen wäre.
Es bleibt also folgendes Problem: Durch die Unterscheidungen, die wir machen, und von denen wir dann ausgehen, bestimmen wir die Wirklichkeit, in der wir uns zurechtfinden wollen, immer schon mit.
Wenn wir wissen wollen, was wäre, wenn wir von anderen Unterscheidungen ausgegangen wären, müssen wir andere Unterscheidungen machen, die dann ebenfalls einschränken, was mit ihnen zu beobachten ist. Dasselbe ergibt sich natürlich auch, wenn man versucht, sich jeder Unterscheidung zu enthalten, denn auch damit wird etwas entschieden.

Eine Kunst, die sich dieser Logik des Unterscheidens bewusst ist, begnügt sich deshalb auch nicht damit, Objekte zu präsentieren, die für sich selbst stehen sollen, sondern versucht, die andere Seite, also das, was durch die Unterscheidung unsichtbar gemacht wird, zu erreichen.
Besonders eindrücklich zeigt das die Bedeutung, die Zobernigs schwarzes Rechteck, hier hinter mir, im Zusammenhang des ganzen Raumkonzepts zugewiesen bekommt. Es will nicht nur die Farbe Schwarz als Inbegriff universeller Wahrheit in der Tradition gegenstandsloser Abstraktion zitieren, sondern auch eine Art schwarzes Loch suggerieren, auf dessen anderer Seite sich andere Beobachter befinden, über deren Unterscheidungen wir nichts wissen. (Diese Interpretation wird durch das Video, das sich hinter ihnen neben der Treppe befindet, nahegelegt: Der Vortragssaal wird dort als die Umkehrung des berühmten Kinosaals von Kubelka gekennzeichnet, und wäre dann die exklusive Sphäre, auf die sich die Blicke passiver Kulturkonsumenten konzentrieren.)
Der positiven künstlichen Welt des Museumsraumes stehen die uns verschlossenen Innenwelten unerreichbarer Betrachter gegenüber.

In der Systemtheorie steht für dieses Problem der Begriff des blinden Flecks zur Verfügung. Der blinde Fleck bedeutet nicht nur einen Mangel oder eine Komplikation, sondern bildet auch das Moment des Übergangs zur Dimension der Zeit. Seine Existenz bewirkt, dass Beobachtungen in Prozesse eingebunden sind. Die Unvollständigkeit der Beobachtungen lässt immer Möglichkeiten offen, die in den folgenden Schritten einbezogen oder auch wieder vergessen werden können. Das ist praktisch ein Teil der Lebensbedingung der Systeme.

[Kreativer Prozess]

Auf der elementaren Ebene von Beobachtung und Unterscheidung lässt sich also der blinde Fleck mit dem Sachverhalt in Verbindung bringen, dass Systeme permanent Strukturen erzeugen, verändern und markieren, wobei sie einen Überschuss an Möglichkeiten zur Verfügung haben, aus dem sie auswählen. Man kann von einem permanenten kreativen Prozess sprechen, insofern dabei Wirklichkeit laufend neu erzeugt wird, auch wenn es sich nur um Wiederholung handelt, wenn also nur bereits vollzogene Unterscheidungen und Beobachtungen kopiert werden. Das Erfinden neuer Wirklichkeiten, das in der Kunst eine so grosse Rolle spielt, kann also bereits auf der elementaren Ebene der Differenz angesetzt werden.

Beispielsweise liesse sich zur Illustration an die Tatsache erinnern, dass kein einzelnes Mitglied einer Sprachgemeinschaft genau so spricht, wie es offiziell vorgeschrieben ist. Jeder verwendet Wörter und Grammatik mit leichten Abweichungen. Auf diesen elementaren Differenzierungsprozessen beruht das „Leben” der Sprache, also die Permanenz ihrer Neuschöpfungen, die sich zwar im Einzelfall nicht zu genialen Begriffsentwicklungen summieren, aber deren minimale Voraussetzungen bilden.

Analog dazu wäre die auffallende Neuheit eines Kunstwerkes, wenn sie vorkommt, aus der Verdichtung vieler kleiner Differenzen zu erklären, die nicht unbedingt alle in einem Subjekt lokalisiert werden müssen, sondern auch als in ihm zusammenlaufende anonyme Prozesse vorgestellt werden können.

Aber die operative Abgeschlossenheit der Kunst ermöglicht es den Beteiligten auch, gegenüber anderen Kontexten Distanz zu gewinnen und deren Strukturen skeptisch zu beobachten.
Ich möchte das mit Bezug auf die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz jetzt anhand der Arbeiten reflektieren, die im Raum hier hinter mir ausgestellt sind. (Sie können zwei der drei großformatigen Werke sehen, das dritte hängt an der Rückseite dieser Stirnwand.) Wie auch bei dem schwarzen Bildobjekt, das zu unserem Vortragssaal gehört, lassen sich diese drei monochromen Flächen in die Traditionslinie der Abstraktion einreihen, und bringen darin ein Moment der Selbstreferenz von Kunst zum Einsatz.
Hier ist übrigens auch der Punkt, an den ich dachte, als ich für diesen Vortrag den Titel festzulegen hatte. Ich wusste damals nur sehr ungenau, was ich hier vortragen würde, und entschloss mich deshalb, das Leitmotiv der Systemtheorie, auf das der Kunstrichtung anzuwenden, die bei Zobernig eine so wichtige Rolle spielt. Zobernigs Arbeiten beziehen sich auf anschaulicher Ebene auf Abstraktion, aber sie geben dem eine neue Wendung. Die Differenz liegt in der Fremdreferenz. Durch die farbigen Stoffe beziehen sich die Bildobjekte auf die Blue-Screen-Technik, die bekanntlich im Kontext elektronischer Filmproduktion benutzt wird.
Witzigerweise ist damit auf einer anderen Ebene noch einmal die Problematik von unsichtbarer, undarstellbarer anderer Seite jeder Unterscheidung, oder in der Sprache der Abstraktion: des gegenstandslosen Nichts berührt; denn die Flächen, die hier ausgestellt sind, wären bei ihrem Einsatz als „Blue Screen” im Resultat unsichtbar, sie wären nur Leerstellen, in die andere Bilder eingesetzt werden. Was dort unsichtbar wird, wird hier dagegen sichtbar. Für uns Kunstbetrachter ist allerdings weniger wichtig, dass das dekorative Farben sind, als vielmehr die Tatsache, dass wir die in den Filmen darüber projizierten Einblendungen hier in abgeschalteter Form vor uns haben. Was dort sichtbar wird, wird hier unsichtbar! Wir sehen sozusagen den blinden Fleck der Medienindustrie und können nun alles das in den Zustand imaginärer Unendlichkeit (Formlosigkeit) transformieren, was dort normiert ist und sich selbst immer ähnlicher wird.
Das Kunstsystem beobachtet, wie das Mediensystem beobachtet, und was es dabei übersieht. Damit sind wir bei einer weiteren Möglichkeit von Beobachtung angelangt: bei der Beobachtung von Beobachtung oder der

Beobachtung zweiter Ordnung.

Beobachtung zweiter Ordnung findet sich erst in der modernen Gesellschaft als kulturelle Selbstverständlichkeit – und zwar als Resultat eines Prozesses der Ausdifferenzierung. Es wird selbstverständlich, dass ein Beobachter nachschaut, von welchen Voraussetzungen andere Beobachter ausgehen – um sich darauf einzustellen, und die Verhältnisse im Auge zu behalten, die dabei geschaffen werden. Bei solchen „Seitenblicken” fällt auf, dass man selbst ebenfalls beobachtet wird. Das kann zu so paradoxen Situationen führen, dass jeder seine Einstellung von der Einstellung der anderen abhängig macht, womit offensichtlich die Gefahr von Unfällen und Realitätsverlust verbunden ist. Auch in der Kunst wird deshalb die Wichtigkeit einer mitlaufenden Beobachtung erster Ordnung immer wieder betont.
Abgesehen von der gelegentlichen Verwendung untypischer Materialien sind bei Zobernig allerdings keine primären Beobachtungen zu finden. Wenn auch gelegentlich abgemildert durch einen Rest von Naivität und einen Schuss Humor – gibt er damit ein Faible für jene Tendenz innerhalb der Avantgarde zu erkennen, die sich mit der Postition der Meta-Beobachtung identifiziert. Einen Ausgleich dafür sucht Isabelle Graw, wenn sie Zobernig, (in dem Interview, das sie mit ihm geführt hat, und das im Katalog zur Ausstellung abgedruckt ist,) auf seine persönlichen Gewohnheiten und Einstellungen hin befragt. Diese Details können natürlich den Mangel an Konkretion innerhalb des Werks nicht beheben.
Immerhin ist da diese ironische Brechung und diese Art von metatheoretischer Bastelei mit historischen und kontextuellen Bezügen, die es vom hermetischen Charakter klassisch-moderner Identität distanziert.
Das lineare Denken wird zumindest subtil gebrochen und diese Gebrochenheit wird, indem man sie nachvollzieht, kommuniziert.

[Kommunikation]

Um Kommunikation im Sinne heterarchischer Systeme zu unterstützen, wäre es allerdings vermutlich besser, wenn die Kunst beide Formen von Beobachtungen zuließe und integrierte.
Nur dann würde ein gesellschaftliches System von Relationen greifbar, das sich im permanenten Vollzug von Unterscheidungsoperationen zu einem vielfach verzweigten Netz ausbreitet.

Die Grundlage der Kommunikation muss dann nicht mehr tabuisiert werden. Die Verschiedenheit der Beobachtungen, ihre Differenz, würde dann nicht mehr von darauf aufbauenden Identitäten verdeckt.
An Punkten wie diesem berührt sich die Systemtheorie übrigens mit dem grammatologischen Projekt Derridas, insofern hier wie dort die vorgängige Existenz einer authentischen Weltbeschreibung geleugnet und als Erzeugnis gesellschaftlicher Wahrnehmungstrukturen dekonstruiert, bzw. aus historischen Beobachtungsmöglichkeiten und ihrer Selbstbegrenzung erklärt wird.

[Kunst]

Lässt man sich auf diese Sicht der sozialen Wirklichkeit ein, und begreift man Kunst als eine besondere Form gesellschaftlicher Kommunikation, dann könnte man ihren Umgang mit Unterscheidungen, Formen, Deutungen und Umdeutungen als das Spiel mit den Grenzen und Paradoxien der Beobachtung beschreiben. Sie wäre eine Erkenntnistheorie eigener Art, auf der Grundlage von Wahrnehmungen, die sich auf die Gegebenheiten der Beobachtersysteme mit ihrem blinden Fleck einlässt.
Um diese Perspektive zu gewinnen, muss die Beobachtung von den beobachteten Gegenständen auf die Operationen der Unterscheidung umgelenkt werden. Diesem Ziel dienen solche Techniken wie Verlangsamung, mehrfache Wiederholung oder Sabotage der angestellten Beobachtungen. Der Zufall kann dabei eine nützliche Rolle spielen. Es geht schließlich darum Gelegenheiten zu provozieren und zu erkennen, die sich in Verfolgung einer vorher festgelegten Absicht nicht ergeben würden. Darin liegt auch die Ursache für die vielen Umwege, Überraschungen, Sprünge, Umkehrungen und Irritationen, mit denen man in der Kunst konfrontiert wird.

Vielleicht ist die Funktion der Unterhaltung und Zerstreuung gar nicht so nebensächlich, wie es oft behauptet wird. Es kommt wahrscheinlich vor allem darauf an, wie weit die normalerweise befolgten Gewohnheiten, vor allem: Denkgewohnheiten, zerstreut werden.
Aber dabei sollte sie die Aufgabe nicht aus den Augen verlieren, die Grenzen, die durch Kommunikation im weitesten Sinn gezogen werden, als etwas beobachtbar zu machen, das auch anders sein könnte. Die Erfüllung dieser Aufgabe der Distanzerzeugung bringt die Notwendigkeit mit sich, bis an die Grenzen zu gehen, und auch die vorgegebenen Kontexte, innerhalb derer sie selbst operiert, bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit dem Testfall zu unterziehen.
Wir haben gesehen, wie beispielsweise Zobernig uns an diese Grenzen führt, indem er uns die sichere Position des neutralen Beobachters durch paradoxe Verhältnisse entzieht. Übrigens dürften wir alle diese Irritation zwischenzeitlich wieder vergessen haben. Dieses Schicksal des Verschwindens entspricht jedoch der Logik einer Strategie, die ihre eigenen Grenzziehungen immer wieder in Frage stellen will. Zobernigs Arbeit hat das bereits einkalkuliert, denn je mehr wir uns von der dekorativen Banalität dieses Vortragssaales anstecken lassen, desto stärker kann damit das Bewusstsein kontrastieren, dass das nur die glatte Oberfläche einer ganz anderen Erfahrung ist.

Die Aufgabe der Kunst, Unterscheidungen und die Gesetze ihrer Form beobachtbar zu machen, antwortet auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft.
Mit der Auflösung aller natürlichen Notwendigkeiten ergibt sich unter den Bedingungen der Moderne für alle Bereiche eine wachsende Abhängigkeit von Entscheidungen. Und auch hier kommt es zu Paradoxien, die einen geschickten Umgang mit Unsicherheiten erfordern, wenn man sich nicht durch Festhalten an Prinzipien blockieren will.
Als eine Art ethisches Prinzip, kann deshalb der Imperativ formuliert werden, die Unterscheidungen zu vermehren, um damit die gegenwärtigen und zukünftigen Wahlmöglichkeiten im Sinne flexibler Operationsfähigkeit offen zu halten.




[Normalität / Mitte]

Demgegenüber lassen sich nun massive Tendenzen beobachten, die die Freisetzung polyvalenter Strukturen behindern bzw. lähmen, und zu Blockierung und Entdifferenzierung führen.
Das kulturelle Phänomen, das in diesem Zusammenhang die zentrale Rolle spielt, ist das der Normalität.
Anders als Fundamentalismen, deren Attraktivität auf der Vorstellung basiert, man könne doch einen absoluten Standpunkt und den entsprechenden Konsens voraussetzen, geht die Idee der Norm von der letzlichen Unmöglichkeit einer Lösung der Unbestimmbarkeitsprobleme aus.
Sie konzentriert sich auf die Bemühung, „Risiken und Nebenwirkungen” als etwas zu beobachten, das sich minimieren lässt.
Wesentliche Grundlage für diese Vorgehensweise ist die Statistik. Die Gauss‘sche Normalverteilung als Prototyp dieser Operation gibt das unruhige Feld voneinander abweichender Positionen im sozialen Raum als geordnete Menge wieder,
und zeichnet sich vor allem durch eine gewichtige Mitte, den sogenannten statistischen Bauch, aus.
Anstelle transzendenter Vorgaben sind die Werte, an denen man sich orientiert, jetzt immanent korreliert.

[Schluss]

Die Fixierung auf den stabilen Pol der durchschnittlichen Mitte lässt sich als eine Technik der Unbestimmtheitsbewältigung auffassen.
Sie steht dem kommunikativen und differentiellen Potential der modernen Gesellschaft hemmend gegenüber und wirkt als eine Art Attraktor der Selbstähnlichkeit in alle Bereiche hinein. Darauf beruht dann wieder der zirkulär begründete Geltungsanspruch der zugehörigen Codes.
So lässt sich gegenüber dem Zug zur Normalität ein gesellschaftlicher Bedarf an Störung und Irritationserzeugung, ja einer entschiedenen Einmischung in die Machtspiele um die Kontrolle der Codes nicht leugnen.
Kommunikationen und Beobachterschemata, die unter dem Sog der Normalität erstarrt sind, müssen wieder durcheinander gebracht werden, um für die Freisetzung künftiger Wahlmöglichkeiten offen zu bleiben.
Daneben steht immer noch die Frage nach der Einschätzung von weniger nüchternen kulturellen Projekten Im Raum, wie dem des Exzessiven, der Unberechenbarkeit, oder der emphatischen Hinwendung zum Marginalisierten und Abnormalen.
Zobernig neigt diesbezüglich jedenfalls und offenbar zur Zurückhaltung.

Abschließen möchte ich jedoch meine fragmentarische Inszenierung theoretischer Konzepte mit einem systemtheoretischen Argument, das von Niklas Luhmann kommt:
Es sieht den Erkenntniswert der Kunst gegenwärtig vor allem darin, zu demonstrieren, dass man auch auf der Basis eindeutig illusorischer Vorgaben zu einer Ordnung gelangen kann, wenn man die daraus folgenden Spielregeln ausreichend beachtet.
Diese Demonstration hätte unter anderem den Effekt, der ängstlichen Abwehr alles Abweichenden die Plausibilitätsgrundlage zu entziehen.

Vortrag, gehalten am 10.10.1999, Kunstverein München

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Michael Hauffen

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