Singen zwischen den Stühlen
Im ehemalgien Atelier von Arno Breker treten auf: Personen: Pia und Anke; Requisit: eine Musicbox, aus der Ausschnitte bekannter Pop-Songs erklingen (in Violett die Songtexte) Beide summen einen Ton, der in die Melodie des Jingle übergeht:Beide singen: Wir singen zur Senkung der Herrenmoral – Denn dies ist keine Marschmusik! (2x)
Pia: … also spielen wir es vor.
»Wir« (Freddy Quinn, 1966)
Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? WIR!Wer sorgt sich um den Frieden auf Erden? WIR!Ihr lungert herum in Parks und in Gassen,Wer kann eure sinnlose Faulheit nicht fassen? WIR! WIR! WIR!Wer hat den Mut, für euch sich zu schämen? WIR!Wer läßt sich unsere Zukunft nicht nehmen? WIR!Wer sieht euch alte Kirchen beschmieren,Und muß vor euch jede Achtung verlieren? WIR! WIR! WIR!Denn jemand muß da sein, der nicht nur vernichtet,Der uns unseren Glauben erhält,Der lernt, der sich bildet, sein Pensum verrichtet,Zum Aufbau der morgigen Welt.Die Welt von Morgen sind bereits heute WIR
Anke: Uff! Was ist das denn?
Pia: Da ist ja jemand ganz schön unzufrieden! Und dieser jemand ist tatsächlich Freddy Quinn, von dem wir alle so gerne die Seemannslieder gehört haben. Junge, komm bald wieder!
Anke: bald wieder nach Haus.
Pia: Junge, fahr nie wieder
Anke: nie wieder hinaus. Nicht nur jemand ist unzufrieden – ein Teil der Gesellschaft ist es.
Pia: Und dieses Lied „Wir“ war sogar ein großer »Hit« damals – »Nachkriegszeit«.
Anke: Ich kannte den Song noch gar nicht, obwohl ich damals viele Schlager aufgesogen habe, das war für mich eine Art kulturelle Muttermilch oder so.
Pia: Aber was war denn da los? Gab es damals schon diese »Spaltung« in der Gesellschaft?
Anke: Dem gehen wir nach!
Pia: Und weil wir hier in einem musealen Raum sind, werden wir das in Muße tun.
Anke: Musisch, und mit Blick auf das Schöne, und wie es damals erneuert wurde.
Pia: Oder wie darüber gesprochen wurde – und geschwiegen wurde.
Anke: Und über diesen Raum (zeigt auf die Umgebung des Museums) wollen wir auch nachdenken.
Pia: Ja stimmt, dieser Raum hat seine Tücken. Aber was meinst du genau?
Anke: Dieser Raum hat einen starken Hall – und einen starken Nachhall.
Pia: Du meinst diese mastodontische Dimension.
Und die belastenden Erinnerungen, die hier immer noch lauern.
Anke: Ach ja, »belastende Erinnerungen« ... dazu passt doch gleich mal dieses Zitat von Alexander Mitscherlich, das war 1951:
Pia: Es liegt uns daran, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß zwischen dem in der Bundesrepublik herrschenden politischen und sozialen Immobilismus und Provinzialismus – und der hartnäckig aufrechterhaltenen Abwehr von Erinnerungen – ein Zusammenhang besteht.
Anke: Wir haben es mit dem wohlorganisierten inneren Widerstand gegen die Durcharbeitung eines Stückes unserer Geschichte zu tun, deren Schuldmoment unerträglich war und ist.
Pia: Es geht um die Unfähigkeit zu trauern.
Anke: Die Unfähigkeit zu trauern.
beide: Die Unfähigkeit zu trauern.
Pia: Da wurde also in einer Art Übersprungs-Panik schnell mal alles unter den Tisch gekehrt, was mit Schuld zu tun hatte. Oder jedenfalls fast alles.
Anke: Irgendwie ist dieser Reflex offenbar nicht tot zu kriegen. Aber wir müssen es versuchen, was sollen wir also tun?
Pia: Wir haben uns der Kunst verschrieben! – Und das haben wir doch auch wegen solchen unterdrückten Gefühlen!? Weil wir sie verarbeiten, und zusammen ein anderes Leben führen wollen.
Anke: Wagnis statt Verdrängung und Einschüchterung. Statt Gehorsam und statt enttäuschtem Hass auf alles.
Pia: Verdammt, da lass uns besser ein Lied spielen.
»Wunder gibt es immer wieder« (Katja Ebstein, 1970)
Wunder gibt es immer wiederheute oder morgen können sie geschehn.Wunder gibt es immer wiederwenn sie dir begegnenmußt du sie auch sehn.
Wunder gibt es immer wieder (Pia)heute oder morgen (Anke)können sie geschehn. (Anke)Wunder gibt es immer wieder (Pia)wenn sie dir begegnen (Anke)mußt du sie auch sehn. (zusammen)
Anke: Hey! das ist jedenfalls nicht verlogen, sondern drückt Wünsche aus, die erfüllt werden wollen
Pia: … für die wir auch kämpfen wollen. Also machen wir weiter, gehen wir den Problemen auf den Grund.
Anke: Wir waren bei der Unfähigkeit zu trauern. Und bei der Nachkriegszeit in der BRD.
Pia: OK, es gab ja damals diesen bissigen Autor, Eichler heißt er, der so viel gelesen und später vergessen wurde; der spricht ja auch für so ein hasserfülltes »Wir« wie der Freddy Quinn.
Anke: Er kämpft gegen die moderne Kunst, die damals das Erscheinungsbild der BRD, nach diesem großen Kulissenwechsel, von seiner Vergangenheit reinigen sollte.
Pia: Sehen wir uns doch den mal an:
Anke: Die Suche nach dem Widersinnigen ist jetzt geradezu die Hauptbeschäftigung der Modernisten. Es geht jetzt vor allem um die Frage: Was wurde noch nicht gemacht?
In der Frankfurter Galerie >d< hat man ein Spiegelkabinett aufgebaut, ähnlich wie man es auf Rummelplätzen findet.
Pia: Der Schweizer Jean Tinguely baut Plastiken aus Maschinen und Einrichtungsteilen, die sich selbst zerstören.
Anke: Der Italiener Piero Manzoni zieht eine Entkleidungsschau nach dem Muster von Yves Klein ab, indem er die nackten, von ihm >handsignierten< Mädchen dem Publikum vorstellt.
Pia: Am anderen Ende der Skala von Unkunst wütet der Gruselmaler Francis Bacon, von dem die Mannheimer Kunsthalle 80 großformatige Perversitäten darbieten mußte.
Anke: Achtzig großformatige Perversitäten!
Beide: Achtzig großformatige Perversitäten!
Anke: Der Herr Eichler sprach also für diejenigen, die damals in der neuen BRD plötzlich nicht mehr so ganz ins gewünschte Bild passten mit ihren alten Idealen …
Pia: Sie pochten auf angestammte Rechte, wie fragwürdig die auch immer waren, und sie wollten keine Ruhe geben, auf so eine verbissen rechthaberische Art.
Anke: Nicht »einsam in der Menge«. Die Menge selbst! – vereint vom Protest. Zum Protest.
Pia: Es nützt nichts. Es nützt alles nichts. Deutschland marschiert, damit es sich nicht zu Hause antrifft. Es ist nicht angenehm, einen Tritt zu kriegen, aber getreten muß werden, in jedem Einzelfall.
Anke: Auf populäre Berühmtheiten muß zugetreten werden, wenn man sie schon mal erwischt.
Pia: Schwierig in der Praxis, leicht in der Theorie, fragen Sie Britney!
Anke: Und Britney ist ja noch nicht mal Gegenkultur! Die ist Hauptkultur! Die können Sie nehmen, von mir aus. Die tritt heute abend auf.
Pia: Nein, leider doch nicht. Sie tritt nicht auf.
Anke: Ach so – Entschuldigung! – da haben wir uns jetzt ein Kuckucksei erlaubt. Dafür ist die Jelinek ja Spezialistin.
Pia: Wollten wir uns damit eine Überleitung zum Singen ermöglichen?
Anke: Oder sollte das vergebliche Warten auf »Britney« eine Anspielung sein – auf »Warten auf Godot«, weil das damals so enorm aktuell war?
Pia: und vielleicht näher an der mentalen Wirklichkeit der Bevölkerung?
Anke: Das Godot-Zitat schenken wir uns.
Pia: Aber nicht die Musik!
2x (Anke ersten Teil, Pia hohen zweiten Teil)
Beide singen: Wir singen zur Senkung der Herrenmoral, denn dies ist keine Marschmusik.
Anke: Kommen wir jetzt mal zu dem damals prominentesten Kritiker der Nachkriegsmoderne, kommen wir zu Hans Sedlmayr!
Pia: OK. Aber mir will es scheinen, daß kein Bild öfter wiederkehrt – von Goya bis in unsere Zeiten, zu Munch, etc. – als das scheuende, durchgehende Pferd, das Pferd, das seinen Reiter abgeworfen hat, das rasende – ein Thema von ungewollter und deshalb um so tieferer Symbolik, welches davon berichtet, daß der Mensch die Herrschaft über die Triebsphäre verloren hat.
Anke: Doch gibt es noch andere symbolhafte Bildschöpfungen. Da sind z. B. „die Auswanderer", die Flüchtlinge, die Schiffbrüchigen. – lauter großartige Bilder des Menschenwesens in seiner Fragwürdigkeit. Viele Aufschlüsse sind auf diesem Wege noch zu erwarten, das ist meine Meinung. Die Kunst ist Symptom und Symbol der Gefährdung des Menschen.
Pia: Aha. Wir sollen uns also fragwürdig fühlen, und erschrecken, weil wir die Herrschaft verlieren..., die Triebsphäre!
Anke: Mir kommen dunkle Ahnungen; da hilft nur der Theweleit... also sein Buch »Männerphantasien«. … in dem er die faschistische Mentalität unter die Lupe nimmt.
Pia: Offenkundig geworden ist bei diesen Männern die Abwehr des Liebesobjektes Frau. Ich frage also zunächst: wen oder was lieben sie stattdessen ?
Einer von ihnen, ein gewisser Rudolf Höß schreibt, dass er in seiner frühen Kindheit Tiere, vor allem sein Pony schätzte. Als er sieben Jahre alt ist, ziehen seine Eltern in die Stadt; das Pony bleibt zurück.
Anke: Zitat Höß: »… zu meinem größten Leidwesen gab es keine Ställe, keine Viecher. Wie meine Mutter später oft erzählte, war ich wochenlang fast krank vor Sehnsucht nach meinen Tieren. Meine Eltern taten in jener Zeit alles, um mir die allzu große Tierliebe abzugewöhnen.«
Von der Zeit, als er schon Lagerkommandant von Auschwitz war, schreibt er dann:
»Hatte mich irgendein Vorgang sehr erregt, so war es mir nicht möglich, nach Hause, zu meiner Familie zu gehen. Ich setzte mich dann aufs Pferd und tobte so die schaurigen Bilder weg oder ich ging oft des Nachts durch die Pferdeställe und fand dort bei meinen Lieblingen Beruhigung.«
Pia: So, jetzt haben wir aber fürs Erste genug toxisches Triebleben durchgearbeitet.
Wie »toben« wir nun die »schaurigen Bilder« »weg«?
Anke: Wie wärs mit »Beiss' nicht gleich in jeden Apfel « oder »Quando, quando«
Pia: oder »mit 17 hat man noch Träume«, obwohl wir damals noch nicht mal 17 waren...
»mit 17 hat man noch Träume« (Peggy March, 1965)
Mit siebzehn hat man noch TräumeDa wachsen noch alle BäumeIn den Himmel der Liebe
Mit siebzehn hat man noch TräumeDa wachsen noch alle Bäume In den Himmel der Liebe
Anke: Lassen wir doch mal die andere Fraktion, diese neue Kulturelite, zu Wort kommen. Die finstere Aggression derjenigen, die auf alten Werten bestehen, richtet sich ja vor allem gegen die besagte Nachkriegsmoderne, die damals massiv, auch von Staats wegen, durchgesetzt wurde. Nicht zuletzt aus dem Wunsch nach einem unbefleckten Image. Die berühmte »Stunde Null«.
»Moderne Welt« (F.S.K., 1982)
Und wir sagen ja zur modernen Welt, wir sind OK.Und wir sagen ja zur modernen Welt, wir sind OK.Und wir sagen ja zur modernen Welt, wir sind OK.Und wir sagen ja zur modernen Welt.
Anke: Aber lass uns nochmal ein Stück zurückgehen und den Willi Baumeister vornehmen, der hatte damals in der Kunst sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit:
Pia: Aus seinem Buch »Das Unbekannte in der Kunst«.
Anke: (singend lesen) Die Stärke des Kunstwerkes liegt in der Schwäche der Interpretation des natürlichen Vorbildes. Dem wirklichen Kenner ist die Übersetzung, die Abstraktion, der Abstraktionsgrad das Wesentliche. Die Abstraktionen sind zum Teil an die Einschränkungen gebunden, die vom Material und den Geräten ausgehen (rauher Grund, Farbe, Pinselbreite). Das Modell wird durch das Werk entwertet. Es wird in seinem Wert erschüttert, es wird magisch getötet.
Pia: Also wirklich! Echt jetzt?
Anke: Da hat ja dieser schlecht gelaunte Kritiker von vorhin womöglich recht, wenn er die Sache der Abstraktion für gefährlichen Unsinn hält?
Pia: Aber nicht doch, es gab ja schließlich auch moderne Künstler*innen, die solche düsteren Mythologien abgelehnt haben.
Anke: Und das »Modell«, das hier »magisch getötet« werden soll, ist das nicht genau genommen die Frau?
Pia: Und was hat die »Pinselbreite« damit zu tun? Das ist doch wieder so eine Männerphantasie! Wenn auch sehr verbrämt. Aber das kennen wir ja!
»Wenn du denkst du denkst, dann denkst du nur du denkst« (Juliane Werding, 1975)-- Ah, warte ab, Baby! Morgen bist du dran. Meinste?-- Ja, morgen kommt die ganz große Revanche. Das werden wir seh'n.-- Ja, und dann hast du nichts mehr zu lachen. Hahahahaha!
Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst,Du hast ein leichtes Spiel.Doch ich weiß, was ich will.Drum lach nur über mich,Denn am Ende lache ich über dich!
Anke: Das war aber auch nötig, einmal eine Frau zu hören, die sich nicht lieb und klein macht.
Von Feminismus war damals in der BRD noch nicht viel zu spüren.
Simone de Beauvoir wäre eine starke Ausnahme! Hören wir uns mal von ihr was an:
Pia: Ich denke, dass die Frauen Fortschritte machen werden. Aber es wird nicht einfach sein. Denn da ist der Wunsch, den Männern zu gefallen, diese ganze Feminität eben. … Trotzdem denke ich, dass bei den heutigen Arbeitsbedingungen im Haushalt die Frauen ein wenig mehr Zeit zum Nachdenken haben werden und dass sie auch innerhalb des Kapitalismus einiges erreichen müssten.
Anke: Ich denke, dass die Frauenbewegungen so wirken könnten wie die Studentenbewegungen, die ja auch anfangs limitiert waren, aber dann beinahe alles in die Luft gesprengt hätten. Wenn sie in die Arbeitswelt eindringen, könnten sie das System wirklich in die Luft jagen.
Pia: Ok. Also in die Luft gejagt wurde das System ja leider nicht. Aber immerhin hat die Frauenbewegung im Vergleich zu damals viel erreicht. Danke Simone de Beauvoir!
beide: Danke Simone de Beauvoir!
Anke: Stellvertretend für viele andere natürlich.
Pia: In die Kunstwelt sind die Frauen ja inzwischen schon »eingedrungen«. Damals gab es ja hier praktisch keine Frauen. Vielleicht ein paar wenige in Paris oder New York, aber sonst? Die Ausnahmen werden heute quasi erst nachträglich entdeckt.
Anke: Und es waren auch nicht nur die Frauen, die ausgeschlossen wurden – das nur nebenbei.
Pia: Das wurde aber offiziell immer mit einem Mangel an »Qualität« begründet.
Anke: Passend zum alltäglichen Rassismus, wie in dem Lied von den zwei kleinen Italienern.
»Zwei kleine Italiener« (Conny Froboess, 1962)
Eine Reise in den Süden ist für andre schick und feinDoch zwei kleine Italiener möchten gern zuhause seinZwei kleine Italiener, die träumen von NapoliVon Tina und Marina, die warten schon lang auf sieZwei kleine Italiener, die sind so alleinEine Reise in den Süden ist für andre schick und feinDoch đie beiden Italiener möchten gern zuhause sein
Pia: Bei aller sentimentalen Sympathie ist das also auch so eine Variante der Herrenmoral, oder?
Beide singen: Wir singen zur Senkung der Herrenmoral – Denn dies ist keine Marschmusik!
Anke: Kommen wir nochmal zu diesem Herrn Eichler und seiner Rede vom »gesteuerten Kunstverfall«.
Pia: Ok, da gab es den Fall eines Bildes von Kandinsky.
Anke: 1961 war das Folkwang-Museum in Essen bereit, für ein Bild von Kandinsky aus dem Besitz von Charles Zadok New York 880 000 DM zu bezahlen!
Pia: Dem Urvater der Abstraktion musste jetzt dringend ein Ehrenplatz in der musealen Landschaft eingeräumt werden.
Anke: Eichler: Die Wohlstandsgesellschaft hat also diese sogenannte fortschrittliche Kunst in ihre Obhut genommen, wie man sich einen Hofnarren hält.
Pia: 880 Tausend. Das war damals sehr viel Geld. Es ist aber wenig, wenn man es mit der Dollar-Milliarde vergleicht, die die USA damals für Wissenschaft und Kunst locker gemacht haben, weil sie die jetzt als entscheidende Ressource im Kalten Krieg erkannten. Der »Sputnik« war 1957 dafür der Auslöser.
Anke: Die Kulturhistorikern Angela Schwarz beschrieb das im Rückblick folgendermaßen:
Ein »Piep-piep-piep« ließ Anfang Oktober 1957 die Welt, ganz besonders die westliche Welt, aufhorchen. Es kam vom Sputnik. Radiosender fingen sein Signal auf und strahlten es aus. Wie gebannt saßen die Menschen an den Radioempfängern, um dem zu lauschen: »Listen now for the sound which forever more separates the old from the new«.
Pia: Ein Piepsen als Auslöser für einen Schock, der unter die Haut ging.
Anke: … und gab es nicht in der BRD ähnlich schockierende Entwicklungen?
Pia: Ja klar, die Angst vor einem neuen Krieg, die Angst vor der Atombombe!
Anke: Lesen wir dazu mal ein Stück von Wolfgang Koeppen vor:
Pia: In dreißigtausend Meter Höhe schwebe ich über dem Land des Feindes. Ich sehe aus meinem Himmel seine Städte nicht. Ich will sie nicht sehen. Ich will nicht wissen, ob es Menschen sind, die in ihnen wohnen. Mein Vater sagt, wenn wir sie doch vernichten könnten, wenn wir sie doch mit einem einzigen Schlag endlich vernichten könnten.
Anke: Unter dem Gehäuse, das mich jagend trägt, hängt ein blankes Projektil. Wenn der Kommandant meines Horstes es befiehlt, werde ich das Projektil lösen, wie ein Muttertier sein Junges ausstößt, und es wird Krieg sein.
Pia: Es wird eine verwandelte Welt sein, unter mir ein Erdball künstlicher Sonnen, Ich bin ihr Schöpfer …
Anke: Der Philosoph Günther Anders zog da eine Parallele, die auch ein Licht auf die abstrakte Kunst wirft:
Pia: Der Sinn der Wörter abstrakt und konkret hat sich durch die bemannte Raumfahrt verändert.
Anke: Der in den Raum geschossene Pilot ist nämlich abstrakt, und das sogar in einem sehr konkreten Sinne, nämlich in dem Sinne von abgerissen; "abgerissen" ist ja die wörtliche Übersetzung des lateinischen Wortes.
Pia: Und als in den Raum geschossener Pilot ist er eben nicht mehr "konkret", wiederum im wörtlichen Sinne, nämlich nicht mehr zusammengewachsen mit der Erde, an die er bis zum Abschuss als Irdischer fixiert gewesen war.
Anke: Seit der Explosion der ersten Atombombe besteht die sehr reale Möglichkeit, daß wir unsere Erde in eine tote Kugel verwandeln. Ist es nicht höchst sonderbar und vielleicht mehr als eine Koinzidenz, daß wir in der selben Epoche, in der wir fähig geworden sind, dieses Totsein herzustellen, auch fähig geworden sind, das Bild unseres Planeten mit eigenen Augen zu sehen?
Pia: Da sollten wir jetzt eigentlich verstummen!
Anke: Aber nicht doch! Da bleibt uns ja nur noch die Hoffnung auf die Außerirdischen!
»Fred vom Jupiter« (Die Doraus & Die Marinas / Andreas Dorau, 1982)
Fred vom JupiterFred vom Jupiter Der Traum aller FraunDu machst mich schwach
Fred vom JupiterFred vom JupiterBleib für immer hierGeh doch nicht fort
Pia: Da waren aber die 80er Jahre schon sehr optimistisch, oder was meinst du?
Anke: Stimmt nicht, Die Neue Deutsche Welle konnte auch klare Kante zeigen.
»Es geht voran« (Fehlfarben, 1982)
Keine AtempauseGeschichte wird gemachtEs geht voran!Keine Atempause Es geht voran!
Spacelabs fallen auf InselnVergessen macht sich breitEs geht voran!Spacelabs fallen auf InselnVergessen macht sich breitEs geht voran!
Graue B-Film-HeldenRegieren bald die WeltEs geht voran!
Pia: Ich will nochmal auf das Bild vom Pferd zurückkommen. Es ist doch eigentlich sonnenklar, dass es als Motiv ausgedient hat. Ich habe mal gelesen, dass im 1. Weltkrieg in Europa mindestens 8 Millionen Pferde getötet wurden. Danach begann ja dann die Motorisierung.
Anke: Die Frage ist dann, was aus der Herrenreiter-Mentalität wird. Eine Panzerfahrer-Mentalität?
Pia: Die große Erfolgsgeschichte schrieb das Western-Genre, da gab es jedenfalls noch richtige Männer samt Cowboy-Hüten auf Pferden.
»Ich will nen Cowboy als Mann« (Gitte Haening, 1963)Ich will 'nen Cowboy als MannIch will 'nen Cowboy als MannDabei kommts mir gar nicht auf das Schießen anDenn ich weiß, das so ein Cowboy küssen kannIch will 'nen Cowboy als Mann
Anke: Heute haben wir nur noch Motorräder und SUV.
Pia: Aber es gibt auch diese smartere Variante von Elitebewusstsein im Rahmen der Hochkultur.Beispielhaft dafür ist die Biografie von Werner Haftmann.
Anke: Dem gelang es, von der SA nahtlos ins Kunstsystem der BRD zu wechseln, immer in Führungsposition, von der documenta bis zur Nationalgalerie.
Pia: Das müsste man mit der Architektur hier vergleichen: wie sie die Vertikale betont. Als ob es darum ginge, ein stattliches Reiterstandbild zu beherbergen, –– und dann setzt sie quasi noch eins drauf, geht noch einen Schritt weiter – in Richtung Größenwahn, – in Richtung Übermensch…
Anke: Na also, da haben wirs. Zum Glück gab es ja auch Gegenströmungen in der Nachkriegszeit. Sogar in der Hochkultur.
Pia: Und sogar in der Darstellung von Pferden.
Ich hatte das Glück, in meiner Kindheit immer eine Pferdeskulptur vor Augen zu haben, von Alexander Fischer, einem Bildhauer, der als »entartet« und eigenwillig galt.
Es war ein wildes, ein verletztes, aber trotzdem auch ein verspieltes Pferd.
Gemeinsam: Das hat Mut gemacht!
während sie die Blätter runterwerfen, imitiert Anke einen Cowboy und Pia ein wieherndes Pferd
Verwendete Quellen:
folgende Originaltexte wurden verwendet, wobei die zitierten Stellen im Sinne eines flüssigen Vortrags gekürzt und stellenweise auch leicht modifiziert wurden:
Erstes Darmstädter Gespräch, »Das Menschenbild in unserer Zeit«, 1951
- Hans Sedlmayr, [Über die Gefahren der modernen Kunst,] S. 51
Alice Schwarzer / Simone de Beauvoir. Weggefährtinnen im Gespräch (Interviews)
- Nouvel Observateur, 1972
- Der Spiegel, 1976
Klaus Theweleit, Männerphantasien 1, 1977, S. 116f.
Theweleit gibt als Quelle für die zititerte Textpassage an:
Höß, Rudolf : Kommandant in Auschwitz, München 1963, S. 24
Höß selbst hatte seinen Aufzeichnungen den Titel gegeben: Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben.
Im Katalog der ZLB Berlin gibt es die folgende Ausgabe:
Höß, Rudolf - Kommandant in Auschwitz : autobiographische Aufzeichnungen. Eingeleitet u. kommentiert von Martin Broszat. Stuttgart : Dt. Verl.-Anst., 1958, 184 Seiten
(Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte : Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte ; 5)
Elfriede Jelinek, Wolken.Heim, 1990
Angela Schwarz, »Das Tor in eine neue Dimension? Sputnik, Schock und die Popularität der Naturwissenschaften«, in: Igor J. Polianski / Matthias Schwartz (Hgg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, 2009, S. 31–55, hier S. 32.
Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, 1947, S. 160
Richard W. Eichler, Der gesteuerte Kunstverfall, 1965
Richard W. Eichler, Viel Gunst für schlechte Kunst. Kunstförderung nach 1945, 1968, S. 119
Samuel Beckett, Warten auf Godot, 1952
Werner Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert,1954, (Prestel-Verlag München)
Wolfgang Koeppen, Nach Rußland und anderswohin, 1958, S. 267
Günther Anders, Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, 1970, S. 66 f.
Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, 1967, S. 8 f.
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