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Jean-Ulrick Désert – Auffällige Unsichtbarkeit


Mit der Verleihung des »Wi Di Mimba Wi« – einem neu gestifteten Preis für Künstler:innen of Colour in Deutschland – und mit einer großen Einzelausstellung im Savvy Contemporary (Berlin) wurde jetzt das umfangreiche Werk eines Künstlers geehrt, der seit über 20 Jahren in Deutschland lebt und arbeitet.

In den U.S.A. als Architekt ausgebildet, wo er die Staatsbürgerschaft erworben hat, identifiziert er sich als Queer Afro-Karibier mit seiner Heimat Haiti, wo seine Familie seit der Revolution von 1804 ansässig ist. Haiti liegt im Zentrum des Karibischen Archipels und war die erste Sklavenkolonie in der Geschichte, in der eine Revolution erfolgreich war. In der Folge konnten hier afrikanische Traditionen in einer Republik eine moderne Kultur ausbilden – trotz der anhaltenden Ausbeutung durch die ehemaligen Kolonialmächte, die sich die Anerkennung der Souveränität sehr teuer bezahlen ließen.

Diese Verbundenheit bedeutet jedoch nicht, dass Désert einen partikularen Standpunkt einnähme. Vielmehr besteht sein Engagement darin, ausgehend vom Geist der Befreiung, den diese Insel trotz allem verkörpert, in die verschiedensten Facetten einer prekären globalen Situation mit ästhetischen Mitteln mehr Klarheit und mehr Empathie zu bringen.

MH: In »Waters of Quisqueya« (2017) hast du mittels Zeichnung, Malerei und Prägedrucktechniken eine überbordende Karte der Karibik auf Pergament erstellt, die in poetischer Weise exakte Grenzverläufe (rote Linien), Inseln mit Namen etc. und dazwischen eine Vielzahl illustrativer Elemente (Schiffe, Skelette, Tiere, eine Bohrinsel...) versammelt, nicht zu vergessen die üppige Legende, die in einem barocken Rahmen in der Form Afrikas untergebracht ist und weitere Symbole aus der Geschichte dieser Region zusammenstellt. Du bringst hier nicht nur verschiedene historische, politische und soziale Merkmale zusammen, sondern stellst auch deine eigene Anteilnahme heraus. Kiskeya ist der alte Name der Insel, die sich im Zentrum deiner Aufmerksamkeit befindet und du hast auch schon öfter betont, dass dich nicht nur ihre Notlage ganz persönlich berührt, sondern du auch denkst, dass sie eine zentrale Rolle für die Entwicklung der ganzen Region spielt.

JUD: Ja, die Insel Kiskeya ist geopolitisch gut gelegen und hatte daher von Anfang an unter den Kolonialmächten extrem zu leiden. Frankreich hat den wirtschaftlichen Aufschwung der Insel anhaltend blockiert bis dann die USA die Macht in der Region übernahmen und Haiti von 1915-1934 sogar besetzt haben. Davor kontrollierte auch Deutschland zeitweise ihren Handelsverkehr mit Waffengewalt.

Trotz der ästhetischen Darstellungsweise sind die hoheitlichen Gewässergrenzen exakt nachgezeichnet. Die karibischen Schiffsrouten sind Gegenstand internationaler Auseinandersetzungen, auch wenn das kaum bekannt ist.

Die Kartusche im Rokoko-Stil, die an Afrika erinnert, zeigt in der unteren Hälfte die haitianischen Ruinen des Palastes »Sans Souci«. Das einzige andere Schloss mit demselben Namen befindet sich in Potsdam, und wurde von Friedrich dem Großen erbaut.

Die Karte soll regionale Stimmen und historische Zusammenhänge herausstellen. Sie zitiert literarische Texte und Lieder, adressiert afro-karibische Mythologien, dokumentiert extraktive Industrien und Zwangsarbeitslager (»Plantagen«) sowie Bohrinseln für fossile Brennstoffe, nicht zu vergessen die zeitgenössische Tourismusindustrie.

Von vielen Seiten wurde mir zugetragen, dass dieses Werk Betrachter:innen emotional berührt hat; es wanderte durch viele Museen der USA und nach Martinique, wurde von mehreren Tausend Menschen gesehen. Sein großzügiger Maßstab gestattet es, auf Details einzugehen, die kleinere Karten nicht bieten können. Es wurde unter Verwendung alter analoger und neuer digitaler Techniken, wie Satellitenkarten der Region erstellt. Ähnlich wie großformatige verzierte Karten aus der Vergangenheit sollte »The Waters of Quisqueya« ein seltenes Prachtstück sein.

MH: Alle deine Arbeiten sind hochgradige Kondensate ideologischer, historischer und sozialer Zusammenhänge. Alle Arten von Wissen kommen dabei zum Einsatz.

In deinem Video »GLORIA« (2017) wird man aber damit konfrontiert, dass eine Bücherwand, also der Inbegriff von Gelehrsamkeit, auch als vordergründige Scheinwelt zum Gegenstand fundamentalen Misstrauens werden kann. Wogegen richtet sich dieser abgründige Spott genau?

JUD: »GLORIA«, wird als Teil eines Video-Diptychons (neben »BLING«) präsentiert und zeigt ein Trauerspiel mit verschiedenen Akteuren: eine Hand, ein Mund, eine Wand (aus Büchern). Es beginnt in Venedig an den Gewässern der Adria und mit Durchsagen im Bahnhof San Lucia. Dann wechselt es zu einer Art institutioneller Bibliothek, die, wie du sagst, eher eine Fassade ist, aber in einem Loch die Lippen und die Zunge einer Person zeigt, was je nach Perspektive auch als obszön angesehen werden kann. Die Hand eines weißen Mannes füttert den körperlosen Mund mit Stücken traditioneller »Schlachtplatten« in einer zunehmend hastigen und aggressiven Weise. Diese Arbeit ruft Erinnerungen an Überschreitungen auf: zwischen dem Heiligen und dem Profanen, dem Religiösen und dem Pornografischen – auch im Sinne von Katastrophen-Voyeurismus.

Eine aktuelle Assoziation ist die mediterrane Flüchtlingskrise als spektakuläres Trauerspiel, das den Voyeurismus des globalen Nordens bedient. Die traditionelle »Schlachtplatte« steht (bildlich gesprochen) in einem grundlegenden Konflikt mit dem Empfänger, der aus Regionen stammt, in denen der Verzehr von Schweinefleisch inakzeptabel ist. Eine ähnliche Demütigung wie seinerzeit der Mais, den die Amerikaner den Deutschen anboten, was für diese Schweinefutter war. Der einzige Spott, von dem man sprechen kann, ist die Art und Weise, in der diese widersprüchlichen Überzeugungen in einem Theater der rituellen Akzeptanz dargestellt werden. Diese Arbeit soll Unbehagen hervorrufen, unabhängig davon, auf welcher Seite der Betrachter steht. Anders als BLING, das andere Video, bietet GLORIA keine offensichtliche Lösung. BLING ist eine Meditation über den Konsumwahn im kapitalistischen Zeitalter und die Abgründe, die mit der Verinnerlichung von Identitätsklischees verbunden sind, und dreht sich um das Motiv des »Blackamoor«.

MH: Mit »The Archive« wendest du dich dem Thema Raubkunst / Restitution zu. Mit Hilfe von Augmented Reality konnte man in deiner Ausstellung Objekte aus der Berliner Ethnologischen Sammlung sehen, die schon deshalb nicht real gezeigt werden können, weil sie durch die Verwendung toxischer archivarischer Substanzen kontaminiert sind. Du zeigst nun diese Objekte nicht nur in gespenstischer Gegenwart, sondern stellst auch Verbindungen zu Haiti her, da die Grafiken, die der von dir programmierten App als Trigger (für das Aufrufen ihrer Erscheinung) dienen, Teile des Sternhimmels von Haiti zum Zeitpunkt jenes großen Erdbebens zeigen, die eine andere Arbeit im gleichen Raum thematisiert.

JUD: Das Berliner Archiv wurde 1838 gegründet und enthält Tausende von afrikanischen Kulturgütern, vom Alltäglichen bis zum Sensationellen. Zweifellos kann es insgesamt als ein Wissens-Schatz verstanden werden, sowohl für Deutschland als auch für Afrika. Mein Projekt reiht sich in eine seit langem geführte Diskussion über die Rückgabe von Kulturgütern ein. Es wäre ungenau, all diese Kulturgüter unbedingt als geraubt zu bezeichnen, aber ich bin sicher, dass sie an ihren Herkunftsorten fehlen.

Mein Anliegen als Künstler war es weniger, die Geschichte ihrer Herkunft darzulegen, als vielmehr einen Erfahrungsraum für sie zu schaffen. Es geht um Zeugenschaft, unter Einbeziehung ihres derzeitigen Zustands, wozu auch ihre Systematisierung mit Archivcodes zählt, sowie die daneben notierten Namen von Händlern, oder die erwähnten toxischen Substanzen.

Sie als digitale Phantome in einer minimalistischen Umgebung zu präsentieren, scheint mir keineswegs als Notlösung, sondern als ideale Weise, ihre Delokalisierung zur Geltung zu bringen. Schließlich bergen sie ja immer noch Wissen, aber es müsste freigesetzt werden. Die goldenen Rettungsdecken verweisen auf aktuelle Dilemmata der Migration – ebenfalls Symptome des Verlusts angemessener Situiertheit, den viele erleiden. Ich verwende sie auch, weil Gold in den meisten Kulturen als Wert gesehen wird.

Die virtuelle Präsenz eines jeden Objekts wird jeweils durch ein kartografiertes Sternbild ausgelöst, das in loser Verbindung mit meiner Lektüre der Mythen und des Glaubens an deren Wirkungen steht. Das System der Astrologie ist in vielen Kulturen der Welt verbreitet und so gibt es auch für die Tragödie von Haitis großem Erdbeben Erklärungen, die am »Himmel über Port-au-Prince Haiti 12. Januar 2010, 21:53 UTC« eine besondere Konstellation zu erkennen glauben.

MH: Auf einer der Sternkarten, die als Trigger dienen, ist das Sternbild der Andromeda zu sehen. Damit beziehst du griechische Mythologie als Wissensschatz mit ein. Du erwähntest schon die Astrologie, die ebenfalls eine sehr lange Tradition hat, womöglich auch Elemente eines widerständigen Wissens bereithält. Könnte man sagen, dass du eine Art universelle Wissensbasis (re-)aktivieren willst, dass du verstreutes Wissen in Umlauf bringen und es gegen etablierte, aber zerstörerische Denkweisen in Anschlag bringen willst?

JUD: Deine Frage unterstellt eine bestimmte politisch-philosophische Agenda, die in meine künstlerische Methode eingebettet ist. Ich kann das weder bestätigen noch zurückweisen, aber ich kann sagen, dass das Kunstwerk für die eigene Erfahrung des Betrachters und seine persönlichen Interpretationen unter Verwendung seines eigenen Wissens oder Glaubens freigegeben ist. Es stimmt, dass es einen Aspekt des Eurozentrismus gibt, der es der griechisch-römischen Mythologie erlaubt hat, die zeitgenössischen Disziplinen der Astronomie und Astrologie zu dominieren, die historisch miteinander verflochten sind. Im Geiste der synkretistischen Traditionen, denen ich verbunden bin, gibt es keinen offensichtlichen Konflikt zwischen Andromeda und einer königlichen Ifé-Figur (um 1400 n. Chr.) oder der digitalen 3D-Erfahrung, in der hier Objekte aus dem Archiv zugänglich gemacht werden. Die Notwendigkeit, universelles Wissen zu offenbaren oder zu verbergen, variiert von Kultur zu Kultur. Die Vorstellung, dass die Kunst diese menschliche Tendenz ändern kann, ist sehr idealistisch.

MH: Zur Biennale von Venedig 2019 warst du ausgewählt worden, erstmalig einen Haitianischen Pavillion zu bespielen. Allerdings hat eine politische Krise dazu geführt, dass im letzten Moment die Gelder gestrichen wurden, so dass deine Arbeiten zwar im Katalog dokumentiert sind, aber nur eine Ersatzpräsentation realisiert werden konnte.

JUD: Mein Plan war es, mehrere lose miteinander verbundene Arbeiten zu präsentieren. Eine davon hätte die Ermordung des Charlemagne Péralte im Jahr 1919 während der 19-jährigen Besetzung Haitis durch die Vereinigten Staaten thematisiert. Der 100. Jahrestag dieser Tragödie schien mir ein geeigneter Zeitpunkt zu sein, und der verstorbene Okwui Enwezor hatte mich noch ermutigt, diese Art von Relevanz in der Kunst anzustreben. Unsere Bemühungen überschnitten sich mit den wachsenden Protesten in Haiti, bei denen es um die langjährige Veruntreuung von Geldern aus dem Petrocaribe-Abkommen mit Venezuela durch die Regierung ging. Die Finanzierung des nationalen Pavillons durch den haitianischen Kulturminister musste schließlich unterbleiben. Daher wurde in der Eröffnungswoche im Circolo Ufficiali Marina Militare vor den Toren des Arsenale eine kleinere Ausstellung als Alternative präsentiert. Die damals zusätzlich im öffentlichen Raum gezeigte Arbeit »El Amor del Dios« hängt nun hier in der Ausstellung und zeigt das Schild eines Madrider Bettlers, auf dem er seine Notlage in wenigen Worten beschreibt. Es wurde auf gut sichtbares Textil mit Goldfarbe übertragen, um der Botschaft ihr ganzes Gewicht zu geben – als Verstärkung der Stimmen der vielen anderen, die unter einer ähnlichen Situation leiden.

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Michael Hauffen

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