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Ceremony. Burial of an Undead World


Eine Zeremonie könnte man vielleicht so definieren: feierlich ausgeführte Handlung im Bewusstsein ihrer das Alltägliche überschreitenden Bedeutung. Ist dann die tägliche Eröffnung der Wallstreet eine Zeremonie? Der Künstler Will Kwan hat jedenfalls ein Video produziert, in dem sich eine große Zahl von Versionen dieses Rituals wie in einem Spielautomaten als Dauerloop wiederholen. Dass uns dergleichen eher als überflüssige Dekoration erscheint, hängt allerdings vielleicht auch damit zusammen, dass Aufklärung und Entzauberung über die Kehrseite der Auslöschung traditioneller Kulturen hinwegtäuschen. Die Abwertung von deren religiöser und ritueller Praxis musste so radikal sein, um die unmenschlichen Kosten des Kapitalismus, als unvermeidlichen Nebeneffekt eines gloriosen Fortschritts verdrängen zu können.

Für diese Arbeitshypothese haben die Kurator*innen zahlreiche Belege zusammengetragen; aber es soll auch um die Frage gehen, ob und wie Gegenentwürfe aussehen könnten, die den Nachkommen ausgebeuteter Kolonien für ihre verlorenen Mythen, als Bestandteil ihrer Identität, adäquaten Ersatz böten. Dazu wird in einem Statement auf die Theorien von Sylvia Wynter aus Jamaika verwiesen, die das hohe Widerstandspotential der schwarzen Diaspora geltend macht. Als historisches Beispiel afrikanischer Mythologie wird das Kaisertum Haile Selassies angeführt . Die Ausstellung präsentiert dazu drei anonyme Gemälde, die die sozialen Akteure idealisierend als zahme Tiere darstellen. Einen Löwen (für den Kaiser) umgeben verschiedene andere Tiere, die sich zur friedlichen Runde gruppieren; ein Affe mit einem Buch spielt offenbar den Zeremonienmeister. Die Tiere repräsentieren in codierter Form ein theologisches System, auf das hier der Wunsch nach einer tragfähigen, nicht-korrumpierten Religiosität projiziert wird.

Die zahlreichen anderen, mehr oder weniger mit kultischer Praxis verbundenen Objekte und Dokumente versuchen aus verschiedenen marginalen Perspektiven eine Vorstellung davon zu geben, die nicht zufällig oft die Form anti-patriarchaler Mythen annimmt. Pauline Curnier Jardin hat etwa Belege eines neapolitanischen Totenkults zusammengestellt, einer Zeremonie, die von Frauen in einer Krypta ausgeführt wird. Dort unten scheint die Doktrin der katholischen Kirche nur teilweise zu gelten.

Wie weit der offizielle Raum unserer Kultur in Bewegung ist, oder wie starr, wird anhand einer Fragestunde mit Ronald Reagan oder einem Gebet von Papst Franziskus sondiert. Historisch ältere Dokumente beziehen sich auf Mussolinis Versuche, archäologische Beweise für die heroische Überlegenheit Italiens zu finden, oder lassen einen AIDS-Aktivisten zu Wort kommen. Auch die Werke Antonio Gramscis tauchen dazwischen auf: eine Ausgabe seiner Gefängnishefte liegt unkommentiert neben anderen Exponaten.

Der angedeutete historisch-kritische Aspekt ist jedoch nur die eine Seite der umfangreichen Ausstellung. Als Antithese fungieren genuin künstlerische Ansätze, die das Thema individuell und frei behandeln.

Jermay Michael Gabriel, der als italienischer Künstler wegen seiner Herkunft aus Erithrea ein intimes Verhältnis zu impliziten kolonialen Bezügen der italienischen Moderne unterhält, spielt mit einer hohen Treppenskulptur auf das Hierarchische an, das seinen Ursprung in der Trennung von Profan und Heilig, in der ersten Arbeitsteilung zwischen Experten und Usern gehabt haben könnte. Allerdings ist es eine Wendeltreppe, die hier als skulpturales architektonisches Monument erscheint und fast skurril oben mit einem schwarzen Löwen bestückt ist, den man nur halb erkennen kann, und der zudem dort oben auf eine kleine Videoprojektion blickt, die vor allem durch flickernde Bilder auffällt. Bei der Begeisterung für die witzigen Bezüge, die hier zwischen kolonialen, nativen und medialen Elementen entstehen, meldet sich allerdings der Verdacht, dass ein solches assoziatives Spiel integraler Bestandteil genau jenes Zeremoniums ist, das seit der Renaissance den Glauben an die Notwendigkeit von Ursprungsmythen nach und nach ersetzt und Raum für die Idee freier Selbstbestimmung des zumeist weißen »Menschen« geschaffen hat – nämlich der bürgerlich-elitären Kunst. Dieser Gedanke, sozusagen synkopisch zum Tenor der Ausstellung, betrifft mehr oder weniger deutlich auch die Arbeiten der anderen Künstler*innen. Die großen Filzstiftzeichnungen von Militärkapellen, die Depper Bruce Lafitte anfertigt, könnte man noch als programmatische Entwürfe für einen Cargo-Kult interpretieren, wenn sie nicht mit soviel individualistischer und subtil-boshafter Akribie ausgeführt wären. Noch bissiger und denunziatorischer sind die Zeichnungen von Rachel O’Reilly, die unter dem Motto »Postcontractual Surrealism« die postkoloniale und umweltzerstörerische Mischung aus Weitermachen-wie-bisher und Wunder versprechendem Teamgeist anprangern.

Auf der anderen Seite steht der Versuch, die im Zuge der Aufklärung verhöhnten traditionellen Wissens- und Glaubenssysteme, zusammen mit den Traumata, die ihre Tabuisierung verursacht hat, in Erinnerung zu rufen. Tanja Willards Vinyl-Banner geben der Trauer über die Zerstörung der Grundlagen einer ökologisch intakten Lebensweise Ausdruck, die mithilfe christlicher Institutionen in ganz Nordamerika vorangetrieben wurde. Erst in jüngster Zeit beginnt man sich dafür zu entschuldigen, wie die Videoarbeit »Apologies« (2022) des Künstlers James T. Hong vorsichtig optimistisch festhält.

Jane Jin Kaisen hat mit ihrer Videoinstallation der Ausstellung quasi den Titel gegeben. Eine Gruppe von Akteuren zelebriert darin die Befreiung vom Kapitalismus als ästhetische Prozession. Der übergroße Sarg, den das edel gekleidete Kollektiv zunächst würdevoll trägt – allerdings durch eine Bauruine – wird nach und nach zur ungewollten Last, unter der sich die Träger*innen winden, bis sie sich seiner in einer letzten Katharsis entledigen und sie in den Abgrund befördern.

Dieses Sinnbild kann zumindest nicht für kompensatorische Zwecke neoliberaler Ordnungen instrumentalisiert werden. Es wird hier auch keine abstrakte Humanität propagiert, die am Ende doch wieder nur den intakten Anschein wahrt.

Positiv gewendet, stellt sich die Frage, welche – vielleicht auch religiösen – Kräfte die Kunst zu (re-)aktivieren vermag, welche affektive Unterstützung sie für eine Überwindung der Strukturen geben kann, die uns mit ihrem tödlichen Wiederholungszwang bedrohen.

Mit William Kentridge und seiner Zeichnung einer »Prozession der Enteigneten« wird immerhin der glückliche Fall eines Künstlers präsentiert, der nicht nur zeitlebens gegen die Apartheit in Südafrika engagiert war, sondern auch die Befreiung miterlebt und als großes Ereignis gefeiert hat. Seine Arbeiten trugen laufend zum Selbstbewusstsein der Bewegung bei, indem sie in vielen internationalen Ausstellungen auf eindrucksvolle Art von erfolgreicher Neuordnung, auch von Versöhnung erzählten, ohne die tief zurückreichenden historischen Wunden aus dem Blick zu verlieren. Sie erinnern daran, worum es geht, und dass der Kampf um eine wirkliche Demokratie ein langwieriger, sicher aber kein vergeblicher Prozess ist

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Michael Hauffen

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