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Goodbye London


Der Schriftzug auf dem ersten Plakat der Ausstellung „Their Crisis - Our Jobs” könnte auch auf unsere von Krisendiskursen bestimmten Tage gemünzt sein. Es handelt sich aber um einen von vielen Belegen für eine politisch intensive Phase im London der 1970er Jahre. Auf dem Festland kam davon schon damals nur wenig an – die Erfolge von Pop und Punk überblendeten all die Ansätze radikaler Subkulturen, die dafür den notwendigen Kontext bildeten. Vor allem die Londoner Hausbesetzungen, an der die enorme Zahl von 30.000 Personen beteiligt war – eine Reaktion auf die zum Erliegen gekommene Wirtschaft und die systematische Zerstörung von Wohnraum durch verfehlte Immobilienplanung – schufen die Voraussetzungen für eine neue Vielfalt experimenteller Lebensformen, die den Rahmen vorgegebener Muster total sprengten. Die Ausstellung „Goodbye London” widmet sich jener Epoche anhand einer Reihe von Künstlern, die einzeln oder in verschiedenen Gruppierungen die Herausforderung annahmen, mit ästhetischen Mitteln für eine neue Wahrnehmung der sozialen Realität neue Produktions- und Kommunikationsformen zu entwickeln.
Zunächst ging es damals wie heute um Information und Dokumentation von Ursachen und Ansatzpunkten der Revolte. Jon Savage, ein Musikjournalist, der später das Standardwerk zur Geschichte des Punk verfasste, widmete sich damals auch der Dokumentarfotografie. Seine Serie von Aufnahmen verfallender Gebäude und brachliegender urbaner Zonen macht deutlich, dass in seinem London ein trostloser Alltag das Bild bestimmte – zumindest solange sich kein Widerstand formierte. Andere Fotos von Nick Waits, Boris von Brauchitsch oder von anonymen Fotografen vermitteln einen guten Eindruck der alternativen Kultur, die sich in den besetzten Häusern entwickelte, wobei die sexuelle Aufbruchstimmung, vor allem in Bezug auf lesbische und schwule Beziehungen, eine entscheidende Rolle spielt.
Den Aufnahmen von Interieurs mit ihren improvisierten Wohn- und Arbeitsräumen stehen Dokumente öffentlicher Ereignisse gegenüber, die belegen, dass das Engagement der Hausbesetzerszene weit über ihre besondere Interessenslage hinausreichte. Der Fotograf Homer Sykes hielt 1977 beispielsweise entscheidende Momente von Auseinandersetzungen um die Firma Grunwick fest, wo eine Gruppe asiatischer Frauen ihre schlechten Arbeitsbedingungen und die Behinderung gewerkschaftlicher Organisation mit einem Streik beantwortete, an dem sich die Gay Liberation Front ebenfalls aktiv beteiligte.
Die Bemühungen um eine breite Solidarität auf selbstorganisierter Basis wurden begleitet von intensiver Produktivität auf dem Terrain visueller Medien, also beispielsweise einer Vielzahl von Postern, Filmen und Performances, die einschlägige Meetings abrundeten. Die Ausstellung zeigt mit „Nightcleaners” (1975) einen experimentellen Dokumentarfilm des Berwick Street Film Collective, der die nächtliche Arbeit von Reinigungskräften einer eindringlichen Analyse unterzieht. Oder Werke von Peter Kennard, der sich – ursprünglich Maler – ebenfalls an der gemeinsamen Produktion von Plakaten beteiligte, dann aber auch zunehmend Aufträge von Tageszeitungen erhielt. Seine Fotocollagen sind zunächst stark von John Heartfield inspiriert, wobei neben prägnanten Bildfindungen auch differenzierte Text-Bild-Montagen entstehen.
Die Übergänge von der Entwicklung gemeinsamer Produktions- und Distributionsformen hin zu künstlerischen Einzelpositionen sind in diesem Umfeld naturgemäß fließend. Während etwa Mary Kellys Beteiligung beim Film „Nightcleaners” nur erwähnt wird, widmet sich die Ausstellung ausführlich einer Reihe weiterer KünstlerInnen, die von ihren Erfahrungen der Subkultur geprägt waren, aber auch umgekehrt prägend gewirkt haben dürften.
Derek Jarman bildete in einer Lagerhalle ein charismatisches Zentrum des Experimentierens mit Lebensweisen unter homosexuellen Voraussetzungen. Neben der freizügigen Atmosphäre verbreiten seine Filme eine Art produktiver Unruhe, ohne je den souveränen Blick zu verlieren. Im Vergleich zur parallelen Entwicklung des strukturalistischen Films in den USA wirken sie dabei deutlich weniger formalistisch. Noch ganz ohne digitale Techniken erstellt, sind sie mit ihren schnellen Schnitten, Zeitraffern, oder psychedelischen Farbverfremdungen Vorformen dessen, was heute in Musik-Video-Clips endlos variiert wird.
Stuart Brisley trat als Performance-Künstler auf, wobei er in Bezug auf das Ausloten physischer Grenzen ebenfalls als Pionier gelten kann. In „And for today...nothing” von 1972 lag er für zwei Wochen täglich zwei Stunden in einer Badewanne mit schwarzem Wasser, umrahmt von verwesenden Fleischabfällen und tauchte immer, wenn ein Besucher den Raum betrat, so lange unter, bis dieser den Raum wieder verließ. Daraus entstand dann der Film mit dem Titel „Arbeit Macht Frei”.
Noch expliziter politisch setzt Margaret Harrison parallel zu soziologischen Studien ihre malerischen Fertigkeiten für eine Analyse der Frauenbilder ein, wie sie die Kunstgeschichte ausformuliert und tradiert. Unter dem Titel „RAPE” konstruiert sie etwa ein Tableau aus malerischen Zitaten, Zeitungsausschnitten mit Berichten von Vergewaltigungen, gemalten Waffen und theoretischen Analysen und erteilt damit dem tradierten Schönheitsbegriff eine ebenso klare Absage, wie einer bloß kontemplativen Haltung des Publikums.
Im Medium der Fotografie verweigert sich Jo Spence ebenfalls gezielt den Zuschreibungen von Weiblichkeit, indem sie ihren eigenen Körper in seiner Differenz dokumentiert und so wesentliche Punkte der späteren Genderdebatte vorwegnimmt. Umgekehrt verfährt Victor Burgin, der in seinen Plakaten Klischees von romantischer Liebe zitiert, um sie in der Art der späteren Adbusters umzudeuten.
Mit David Hall wird schießlich das Werk eines Videokünstlers vorgestellt, der im Sinn von Paul Virilios Schriften die Verbindung von Krieg und Kino thematisiert, indem er Filmmaterial aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt und gleichzeitig die Bewegungen der angreifenden Flugzeuge mit seiner Kamera nachvollzieht, womit er in frappanter Weise das mediale Trauma des Irak-Kriegs vorwegnimmt. Es gelang ihm zudem, einige seiner kurzen Videosequenzen ins offizielle Fernsehprogamm als unangekündigte Interventionen einzuschleusen.
Der primäre Impuls der Ausstellung erschöpft sich sicher nicht in der Vorstellung einiger Exponenten einer Londoner Avantgarde der 70er Jahre, die inzwischen teilweise in Vergessenheit geraten sind, sondern liegt vor allem im Fokus auf ein produktives Feld, das in seiner Art singulär war. Üblicherweise beschränkt man sich im Kunstbereich auf die (Wieder-)Entdeckung von Künstlerindividuen, isoliert sie von ihrer Umwelt und nimmt dabei eine Entschärfung ihrer Impulse in Kauf. Analoges gilt für den kulturellen Mainstream, der zwar einzelne Errungenschaften der damaligen Suche nach besseren Lebensformen adaptiert hat, die Radikalität jener Epoche jedoch verwirft, um den Status Quo nicht zu gefährden.

Zur Ausstellung erscheint eine kleine Publikation mit Texten von Boris von Brauchitsch und
Jule Reuter (deutsch/englisch) im Verlag NGBK, 48 Seiten / ISBN: 978-3-938515-36-5.
Parallel außerdem erschienen: Goodby to London. Radical Art & Politics in the 70’s. Edited by Astrid Proll. Hatje Cantz 2010. ISBN; 978-3-7757-2739-6.

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Michael Hauffen

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