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Francis Alÿs


Mexico-City. In einer kleinen Straße der Altstadt geht ein Mann auf eine Kreuzung zu. An der Ecke stolpert er über einen Hund und stürzt aufs Trottoir. Kurz danach kommt von gegenüber ein anderer Mann und klatscht in die Hände: das Zeichen dafür, dass die Szene nun beendet ist. Diesen minimalistischen und selbstreflexiven Plot hat Francis Alÿs als Video produziert und aus neun verschiedenen Perspektiven, einschließlich der des Hundes, immer wieder neu aufgenommen. Die Hauptrolle des unglücklichen Flaneurs spielt der Künstler selbst. In der Ausstellung stößt man immer wieder darauf.
Man könnte das Stück mit einem Protest-Song vergleichen. Wieder und wieder wird die gleiche simple Story erzählt, und wie in einem endlos wiederholten Refrain wird dabei eine Verweigerungshaltung beschworen, die nicht nur jegliches Happyend, sondern auch jede Entwicklung, jeden Fortschritt mehr oder weniger ironisch zurückweist. Das wiederholte Scheitern scheint geradezu Spaß zu machen, als ob in immer neuen Anläufen das Unternehmen darauf abzielte, im Mikro-Bereich von Differenz und Wiederholung subjektive Erfahrung gegen den offiziellen Mainstream zu ertrotzen. Das Ziel: eine Erfahrung von Freiheit, die im bürgerlichen Leben, und dem dort üblichen Kampf um Beteiligung an der Macht, korrumpiert und falschen Idealen geopfert zu werden pflegt.
Diese Logik der Verweigerung, wie sie uns aus alternativen Subkulturen, aber auch schon von der Figur des baudelairschen Dandys vertraut ist, bildet für Alÿs den Dreh- und Angelpunkt, für eine Infragestellung westlicher Ideologien. Die Megastadt, die er zu seinem Aufenthaltsort gewählt hat, bietet für den derart Abtrünnigen optimale Voraussetzungen.
Kaum behelligt schlafen dort etwa Menschen und Hunde tagsüber im öffentlichen Raum. Eine Serie von Dias zeigt sie aus bodennaher Perspektive, und auch die Projektionsfläche in der Ausstellung befindet sich unter einer Treppe im hintersten Winkel. Was schon an diesen Details deutlich wird, ist die dezidierte Bemühung, keinerlei Überheblichkeit zu suggerieren, und das schließt natürlich die Ablehnung des touristischen Blicks ein. Auch in den musealen Raum ist ein Blickregime eingeschrieben gegen dessen Normen Alÿs an vielen Stellen rebelliert. Seine Serie von Aufnahmen mit Bettlern wird auf den Boden projiziert, Menschen mit schwerem Gepäck erscheinen unter einem Tisch, eine Videoprojektion kann man sich bequem aus der Lounge-Ecke ansehen.
Trotz seiner Distanz zum Glauben an die modernen Ideen von Fortschritt und technischer Beherrschbarkeit sind seine Gesten nicht resignativ. Zunächst einmal geht es ihm offenbar darum, jene im Abseits der offiziellen Normen liegenden Möglichkeiten der Umgehung von Machtstrukturen zu erkunden.
Was er bei seinen für ihn essentiellen Spaziergängen durch die Altstadt leidenschaftlich beobachtet, ist eine alltägliche Kunst des Handelns im Sinne von Michel de Certeau, und die impliziert zwar wenig Reflexion, aber dafür umso mehr Aufmerksamkeit für Gelegenheiten, den Druck von oben zu unterlaufen. Beispiel dafür ist der monumentale Fahnenmast auf dem Zócalo, der zentralen Freifläche der Altstadt. Das repräsentative Symbol nationaler Einheit nutzen die Menschen keineswegs zur systemimmanenten Erbauung, sondern vielmehr als Schattenspender, und was daraus resultiert, hat Alÿs in einer Folge von Fotografien festgehalten: Die Leute formieren sich spontan und fortwährend als Zeiger einer Sonnenuhr. Um eine entschiedenere Art performativer Zurückweisung staatlicher Infiltration dreht sich die Videoarbeit „Cuentos Patrioticos”, in der Alÿs eine Reihe von Schafen frühmorgens um denselben Fahnemast herumführt, wozu er in seinem Kommentar auf einen Protest von Staatsbeamten verweist, die bei einer Versammlung wie Schafe geblökt haben, um ihre Rolle als blind folgende Organe der Staatsgewalt zu kompromittieren. Formal gestaltet Alÿs diese beiden Arbeiten als Konzeptkunst. Die Fotos sind im Stundentakt aufgenommen und mit wissenschaftlich exakten Diagrammen und Daten zum Verlauf der Sonnenbahn versehen, im Video beginnt die Performance mit einem Schaf und dauert so lange, bis sich Schaf für Schaf die virtuell verlängerte Reihe zu einem Kreis vervollständigt hat.
Das konzeptuell anspruchsvollste Stück der Ausstellung ist die 3-fach Videoinstallation „Cantos Patrioticos”, in der das vorwärts und rückwärts mehrfach wiederholte Spiel „Reise nach Jerusalem” (großer Screen, von oben aufgenommen) mit Aufnahmen verschiedener Musikantengruppen und Straßenszenen (je ein kleiner Monitor) kombiniert wird. Einmal handelt es sich um blinde Musiker, die bei einer ähnlichen Reise wie im Spiel, und geschützt von der Aura des Außergewöhnlichen, aneinandergereiht durch die Straßen ziehen; ein anderes Mal sieht man an einer Hauptverkehrsstraße um Geld bittende Männer, die mit fast tänzerischer Bravour fahrende Autos abzupassen versuchen, welche sich einer roten Ampel nähern. Jedes Mal wenn ein Autofahrer Geld gibt, stoppt die Musik, und die Spieler der „Reise” versuchen ihre Plätze einzunehmen. Die in der Arbeit gezogenen Verweise sind zwar eher poetisch, aber die Organisation des Materials auf verschiedenen Ebenen und in ihrer formalen Strenge weist Züge einer elaborierten Metapher auf. Die vielen detaillierten Entwurfszeichnungen können als zusätzlicher Beleg dafür dienen, wie präzise Alÿs seine Figuren und ihre Inszenierung plant.
Auch wenn er anders gesagt eine Reihe von Errungenschaften westlicher Kunstproduktion dafür einsetzt, die Frage nach der modernen Utopie und den von ihr Marginalisierten neu zu stellen, entlarvt er die Chancen für eine erfolgreiche Intervention von Außen in das soziale Geschehen als Illusion. Aber wie steht es um die Chancen innerhalb der Kunst? In ihr agiert Alÿs souverän, indem er aktuelle Tendenzen aufgreift und ihnen eine neue, überraschende Wendung gibt. Auch wenn hier weder die Herrlichkeiten des Daseins, noch die irgendeiner Utopie beschworen werden, gibt es etwas zu erleben, was in kein bekanntes Klischee passen dürfte.
Im Video „Gringo” scheitert der Mann hinter der Kamera beim Versuch ein mexikanisches Dorf zu durchqueren. Bellende und beißende Hunde behindern sein Fortkommen und zwingen ihn schließlich zur Aufgabe seines Ziels und zum Rückzug. Die Kamera bleibt allein zurück, der Film läuft noch ein Stück weiter. Der Gringo ist hier nicht erwünscht. Er wird schließlich genauso auf sich selbst zurückgeworfen wie die Betrachter des Films. Der Loop des wiederholten Scheiterns läuft weiter, und aus seiner Logik gibt es keinen besseren Ausweg, als sie sich zunutze zu machen. So könnte man die Botschaft abschließend zusammenfassen. Francis Alÿs scheint das aber nicht zu beruhigen. Er startet den nächsten Versuch und hält die Entscheidung offen, oder er zeigt um die nächsten Ecke noch eine weitere Version von einem seiner Stücke. Bob Dylan würde sagen: „Like a Rolling Stone.”

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Michael Hauffen

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