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Matts Leiderstam


Die Anhänger der frühen Avantgarde wollten von der Malerei der zurückliegenden Jahrhunderte nicht viel wissen – zu sehr waren sie mit der Anstrengung beschäftigt, die tradierten Fesseln von Konventionen, Genres und Klischees hinter sich zu lassen. Erst aus der rückblickenden Distanz und womöglich nach einer gewissen Ermüdung konnte der Wert vorhergehender Epochen wieder attraktiv werden. Matts Leiderstam hat es sich jedenfalls zur Aufgabe gemacht, der aus heutiger Sicht enormen Subtilität bestimmter alter Meister nachzuspüren, ohne dabei nur in schwärmerische Nostalgie zu geraten.
Seine Vorgehensweise ist von kunstgeschichtlicher Methodik ebenso geprägt, wie von einem unmittelbar sinnlichen Aufnehmen der Wirkung historischer Gemälde. Den kritischen Bezugspunkt bildet dabei sein explizites Interesse an homosexuellen Motiven, denen Leiderstam mit sublimem Interesse nachspürt, wobei er – um den wissenschaftlichen Ansatz zu unterstreichen – technische Hilfsmittel wie Lupen, Fernrohre und Röntgenaufnahmen zum Einsatz bringt. Die zu Tage geförderten Entdeckungen, beispielsweise assoziierte Samenströme oder orgiastische Vulkanausbrüche, mögen plakativ sein, wichtiger dürfte aber sein, dass hier mit demonstrativer Passion eine Fährte aufgenommen wird, deren latente Bedeutung sonst oft nur eine Nebensache bleibt. Um diesen keineswegs zweitrangigen Aspekt vollends deutlich zu machen, stellt Leiderstam ganz konkret eine Verbindung zwischen „pittoresken” Landschaften und Treffpunkten von Homosexuellen her, die sich mit schöner Regelmäßigkeit ebenfalls an pittoresken Orten finden. Ein besonders prominentes Beispiel dieser Art ist der Parc des Buttes-Chaumont in Paris mit einer künstlich angelegten Grotte, von der ein Gemälde Nicolas Poussins existiert. Leiderstam kopierte das Gemälde und brachte es an den originalen Schauplatz zurück, der unter Homosexuellen als besonders verrufen („Enter at your own risk”) gilt – ein gutes Beispiel für die Art, wie sich eine Subkultur dessen romantischen Schauder aneignet.
Auch bei den anderen Motiven, die ihm bei seinen Recherchen in Katalogen auffallen, begnügt sich Leiderstam nicht mit der bloßen kulturkritischen Interpretation, sondern macht sich auf den Weg zu den Originalen und fertigt sogar ganz traditionell Kopien an, um ihrem emotionalen Gehalt näher zu kommen. Sein übergreifendes Projekt „Grand Tour”, an dem er inzwischen bereits seit zehn Jahren arbeitet, versammelt eine Reihe solcher Forschungsobjekte. Auf großen Tischen liegen Kataloge ausgebreitet, die etwa Farbvergleiche zwischen verschiedenen Abbildungen des selben Originals ermöglichen. Der Witz liegt allerdings darin, dass der Einfluss von Farbnuancen auf die vermittelten Stimmungen nicht erst seit dem Zeitalter des Offsetdrucks, sondern bereits von den Malern pittoresker Landschaften selbst intensiv reflektiert wurde. Auf Flohmärkten fand Leiderstam sogar jene Fächer mit Farbfiltern im Handtaschenformat, wie sie damals verwendet wurden, um Landschaften auf ihre verschiedenen Möglichkeiten malerischer Verwertbarkeit zu prüfen.
Das Idyllische war also schon immer eine Konstruktion, und ihren Produzenten zumindest in der Praxis als solche vertraut. Es ist deshalb auch gar nicht so klar, welche Zeit sich der anderen überlegen fühlen kann. Dabei darf man natürlich nicht übersehen, dass die Beschäftigung mit Kunst damals nur einer kleinen Elite vorbehalten war, auf deren Spuren heute etwa der Massentourismus von ähnlich intensiven Erfahrungen bestenfalls noch träumen kann. Wir haben zwar die bequemeren Fahrzeuge, aber womöglich den kürzeren Atem, wenn es um Feinheiten und Untertöne geht. Leiderstam versucht einen Brückenschlag, wenn er wie vor ein paar Jahren in München einen jungen Künstler bittet, sich einen Monat lang jeden Tag für eine Stunde vor das Selbstbildnis eines (bärtigen) Malers zu setzen und sich in dieser Zeit den Bart nicht zu rasieren. Auch hier dürfte es weder um die Rückkehr zu romantischer Schwärmerei noch um ein pseudowissenschaftliches Experiment gehen, sondern um einen geplanten Ausbruch aus den alltäglichen Gewohnheiten mit ihrer relativen Ignoranz gegenüber allzu starken Gefühlen. Ob sich der Ausbruch programmieren lässt, und ob dazu die Ästhetisierung einer kunsthistorischen Forschungstätigkeit ausreicht, darf man zwar bezweifeln, aber schließlich geht es vorrangig darum, ideelle Räume und Gelegenheiten zu konstruieren, in denen ein freies Gefühlsleben in erreichbare Nähe rückt.

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Michael Hauffen

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