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The Short Century


Der Titel des Ausstellungsprojektes, das unter der Leitung von Okwui Enwezor durchgeführt wurde, deutet es schon an: Es geht um die Zusammenfassung einer Vielzahl politischer und kultureller Prozesse, die unter großem existentiellen Druck in Gang gekommen sind. Dieser Druck resultiert in erster Linie aus der brutalen Logik des Kolonialismus, der dem Faschismus in nichts nachstehen dürfte und im übrigen, mehr oder weniger ausgeprägt, bis heute anhält. Aber es ist nicht diese Gewalt allein, die den afrikanischen Kontinent prägt, sondern mindestens ebensosehr die teilweise erfolgreichen Kämpfe um die Wiedergewinnung eines Lebensraumes durch seine ursprünglichen BewohnerInnen. In diesem Geschehen spielt „Kultur” eine zentrale Rolle, und es ist daher keine Frage, dass die Aufarbeitung der politischen Ereignisse und der kulturellen Ausdrucksformen, auf die sie sich stützen konnten, beziehungsweise die sie hinterlassen haben, von Interesse für die Zukunft Afrikas ist. Aber auch eine globale Weltgesellschaft, die die Option eines friedlichen und freiheitlichen Zusammenlebens noch nicht aufgegeben hat, kommt an einer solchen Auseinandersetzung schwerlich vorbei.
Allerdings beginnen die Probleme nicht erst dort in Afrika, sondern bereits bei den Vorstellungen und kulturellen Rastern, mit denen wir hier unsere Eindrücke vom „Schwarzen Kontinent” sortieren, und bei den Begriffen, mit denen wir sie beschreiben. Daraus resultieren Unsicherheiten, die man auf verschiedene Arten ausräumen kann. Eine davon wäre die Verklärung der anderen Kultur in Form jener Exotismen, die vom Sammeln afrikanischer Antiquitäten bis zum touristischen Fotografenblick reichen. Dialog und Konfrontation mit der Gegenwart des Anderen erwachsen daraus genauso wenig wie eine Einsicht in die Paradoxie der eigenen Kultur, deren Identität ja ohne die Existenz der anderen Kulturen weder historisch noch aktuell denkbar wäre. Außerdem spielt aber besonders im Fall von Afrika noch der Umstand eine entscheidende Rolle, dass die andere Kultur in vieler Hinsicht ein historisches Produkt unserer eigenen Geschichte ist. Im Konzept der Ausstellung wird dieser Themenkomplex durch den Begriff des „afrikanischen Modernismus” markiert, der als ambivalenter Bezug zum europäischen bzw. „westlichen” Modernismus gedacht wird.
Die Brüche, die die afrikanische Moderne durchziehen, lassen sich bei genauerem Hinsehen schon in den vielen Zeitdokumenten (Fotografien, Videos, Filme, Zeitschriften, etc.) in der Ausstellung erkennen, wenn etwa heterogene Kleidungsstile, Gesten oder Machtsymbole zusammentreffen. Besonderes Gewicht wird aber auf das Zusammentreffen afrikanischer KünstlerInnen mit der ästhetischen Moderne gelegt, in der diese zwar einen marginalen Platz einnehmen, was jedoch nicht unbedingt mit Bedeutungslosigkeit verbunden ist. Minderwertigkeit war zwar von Anfang an ein Thema, vor allem weil afrikanische KünstlerInnen vom Zugang zur „Hochkultur” in jeder Hinsicht ausgeschlossen waren. Andererseits bildete Marginalität in der Moderne kein unbedingtes Hindernis für die Attraktivität von Kunstwerken. In einzelnen Fällen gilt sogar das Gegenteil. Zudem spielt bekanntlich die vorkoloniale afrikanische Kunst für die europäische Moderne eine große Rolle, wodurch sich afrikanische KünstlerInnen ermutigt fühlen konnten, wieder eigene Traditionen in ihr Werk zu integrieren und weiter zu verfolgen. Ihre Zwischenstellung zwischen Marginalität und Faszinosum impliziert aber auch ein kritisches Potential, das auf verschiedenen Ebenen zur Geltung kommt. Und wenn es wie in dieser Ausstellung in seiner Vielfalt ausgebreitet wird, ist es vielleicht in der Lage, das europäische moderne Selbstverständnis auf subtile Weise zu irritieren. Damit käme es einer Bewegung der Dekonstruktion nahe, die ja in diese Moderne ebenfalls ihre Spuren eingezeichnet hat.
In den Diskursen afrikanischer Theoretiker wurde ein „Kontra-Modernismus” schon seit längerem propagiert, was in Bezug auf die bildende Kunst häufig bedeutete, einen Formalismus anzugreifen, der als Kennzeichen des hegemonialen weissen Kunstsystems erscheint. Demgegenüber vertritt auch die Mehrzahl der in der Ausstellung präsentierten KünstlerInnen eine engagierte Bezugnahme auf die politische, soziale und historische Wirklichkeit des afrikanischen Kontinents. Das hindert sie aber keineswegs, die formale Ebene der Werke selbst zu einem wesentlichen Inhalt zu machen, und damit vordergründige Botschaften bzw. eine eindimensionale Instrumentalisierung ihrer Kunst zu brechen. Jedenfalls fällt im Kontrast zu den Standards westlicher Kunst der hohe Anteil sogenannter expressiver Stilmittel noch bei manchen Zeitgenossen auf. Mit William Kentridge zeigt die Ausstellung einen Exponenten dieser Richtung. Seine Malerei bezieht sich in metaphorischer Überspitzung auf konkrete Ereignisse in Südafrika, wie etwa die Enthüllungen des Ausschusses für Wahrheit und Gerechtigkeit. Stark von Max Beckmann inspiriert, konzentrierte er sich zunehmend auf Zeichnungen mit fast plakativen Szenarien. Das eröffnete nicht nur die Gelegenheit einer Abkürzung zu den wesentlichen Konfliktstoffen, sondern bildete auch den Ausgangspunkt für die Umsetzung in eine eigenwillige Art von Trickfilmen, die nun verschiedene Reihen von narrativen Tableaus miteinander verknüpfen.
Damit ist auch eine Verbindung hergestellt zu jenen schwarzen Künstlern, die seit den 20er Jahren trotz aller Widerstände expressive Bilder gemalt haben, die Unterdrückung und den Wunsch nach Freiheit zum Ausdruck brachten. Der erste schwarze Maler, von dem 1940 ein Bild in die Sammlung der Johannesburg Art Gallery gelangte, war Gerard Sekoto (1913-93), und erst 1964 entschloss sich auch die South African National Gallery, nach über 90 Jahren Sammlungstätigkeit ebenfalls mit einem Bild von Sekoto die Erwerbung schwarzer zeitgenössischer Kunst einzuleiten. Ähnlich symptomatisch liegen die Dinge bei Sekotos Gefährten Ernest Mancoba (geboren 1904), der später einen Teil des Zweiten Weltkriegs in einem deutschen Internierungslager verbrachte und danach als Gründungsmitglied der Gruppe COBRA in Dänemark wirkte, der aber in der späteren Literatur über diese Gruppe oftmals gar nicht erwähnt wird, obwohl von ihm entscheidende Impulse ausgegangen sind.
Heute haben sich die Möglichkeiten für afrikanische KünstlerInnen, im internationalen Kunstsystem Platz zu finden, etwas geändert. Allerdings spielen hier oftmals wieder die Wünsche jener wohlhabenden Finanziers eine Rolle, die an vermeintlicher Ursprünglichkeit mehr interessiert sind, als an einem selbstbewussten Bezug zur Moderne. Aus der gebotenen Vielfalt an Strategien mit dieser Situation aus afrikanischer Perspektive umzugehen, seien hier exemplarisch nur zwei Positionen herausgegriffen: Yinka Shonibare ist 1962 in London geboren, aber seine Arbeiten basieren auf einem ironischen Spiel mit den Klischees afrikanischer Identität und ihrer postkolonialen Reproduktion. Ausgangsmaterial für ihn sind Stoffe, die „afrikanische” Muster tragen, aber in Europa entworfen und für den Massenexport hergestellt werden. Daraus konstruiert er Objekte, die die Hybridität seiner Existenz als Schwarzer im symbolischen Raum offen herausstellen. Oder Georges Adeagbo (geboren 1942 in Benin), dessen Installationen aus verschiedensten gefundenen Objekten, Zeichen und Informationen bestehen, die wie ein Sammelsurium postmoderner Beliebigkeit wirken, wobei aber jedes einzelne Stück etwas mit der Person, die es gesammelt hat, verbindet. Wenn sich daraus eine Identität konstruieren lassen sollte, dann hätte sie sicher keine klare Kontur.
In der zeitgenössischen Kunst sind derlei Bezugnahmen auf die Logik der Kultur(en) – ihre unreduzierbare Komplexität ebenso wie ihre Brüche – keine Ausnahmephänomene. Deshalb passt auch das Konzept der Ausstellung, die sich nicht auf den Bereich der bildenden Kunst beschränkt, gut in einen Trend, der darin liegt, Lebensstile nicht nur zu kultivieren, sondern auch zu durchleuchten. Damit ist die Kunst nicht zuletzt mit ihrem eigenen Kontext befasst, und die Grenze zwischen Innen und Außen wird nicht nur durchlässig, sondern zum Ort von Irritationen und logischen Sprüngen. Wer mit der entsprechenden Beobachterhaltung vertraut ist, wird sich von den hier versammelten Proben einer anderen Moderne schon deshalb angeregt fühlen, weil durch sie die Möglichkeit einer anderen als der stattgefundenen Kunstentwicklung erkennbar wird, was das Feld des Vorstellbaren um mehr als eine Facette erweitert. Aber man kann sich auch einfach von der Begeisterung einer Epoche der Befreiungen anstecken lassen, und danach fragen, welche Impulse eine Gesellschaft verschenkt, wenn sie sich auf Besitztum und Normalisierung versteift.
Nicht zuletzt wäre damit auch eine Perspektive geschaffen, die es ermöglicht, sich den Problemen Afrikas ohne ängstliche Ressentiments oder übertriebene Moral zuzuwenden. Für eine fundierte sachliche Bestandsaufnahme bietet sich außerdem der Katalog der Ausstellung an, der in weit über den Rahmen der Exponate hinausgehender, überblickshafter Zusammenstellung intellektuelle, politische und soziale Prozesse im „Kurzen Jahrhundert” dokumentiert.

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Michael Hauffen

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