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Pierre Bourdieu - Die Regeln der Kunst


Aus der Perspektive der Kunst scheint die Disziplin der Soziologie wenig attraktiv zu sein. Man verdächtigt sie der Gleichmacherei und der Fixiertheit auf abstrakte Daten und Mechanismen, und hält sie für unfähig, die Bedeutung des Außergewöhnlichen, Konkreten und Lebendigen zu Erfassen.
Wäre das Kunstfeld nur von Ausnahmen bevölkert, dann ließen sich allerdings auch gar keine Regeln herausfiltern, die den jeweiligen Einzelfall überschritten. Die Soziologie interessiert sich dagegen in erster Linie für Zusammenhänge und Verhältnisse, die durch die große Zahl von Individuen und Ereignissen, besonders in modernen Gesellschaften, bestimmt sind.
Pierre Bourdieus früheres Unternehmen, das Ästhetische zunächst als einen Faktor des sozialen Geschehens zu untersuchen, der bei jedem Akteur und in jedem Bereich eine Rolle spielt (in: Die feinen Unterschiede) konnte jedoch schon die völlige Inkompatiblität von singulärem Ereignis und massenhafter Gleichförmigkeit relativieren, wobei statistische Verteilungen als Beleg dafür dienen, dass das Interesse an bestimmten Formen von Kunst von der sozialen Position, die jemand einnimmt, in signifikanter Weise abhängig ist. Aber auch wenn diese Studie zum Beispiel nahe legt, dass die Liebe zur abstrakten Malerei die Betroffenen als zur Schicht dominierender Intelligenz gehörig ausweist, ist damit noch nicht gesagt, inwieweit die KünstlerInnen selbst derartige Verwendungsweisen intendieren, und wie sie selbst in die gesellschaftliche Praxis symbolischer Grenzziehungen involviert sind.
Traditionelle Schemata, wie das der ökonomischen Determiniertheit ästhetischer Werte einerseits, oder das einer spontanen Kreativität, die außerhalb der sozialen Kämpfe stattfände andererseits, kann Bourdieus Modell der Logik symbolischer Strukturen hinter sich lassen. Es zielt darauf ab, von ”wirklichen Subjekten” auszugehen, deren Handlungsentscheidungen konkret nachvollziehbar sind, wenn man die Verhältnisse kennt, in denen sie sich bewegen. Auch die seltsamsten Mischungen aus individualistischer Verweigerung, sozialer Unterlegenheit und intellektueller Höchstleistung, lassen sich dann als Kombinationen von Faktoren verstehen, die sich zwar in analytischer Sicht isoliert werden können, aber deshalb noch kein Eigenleben führen. Wo also Diskursanalyse und Systemtheorie manchmal etwas unvorsichtig ein Eigenleben von Dispositiven oder Funktionssystemen hypostasieren, besteht Bourdieu auf der direkten Beteiligung aller sozialen Akteure, die allerdings unter Anpassungsdruck an objektive Strukturen stehen, was ihren effektiven Handlungs- und Reflexionsspielraum einschränkt.
So ergibt sich für das Feld der Kultur das Bild von einem Schauplatz strategischer Beziehungen, in die die ”Kulturproduzenten” verwickelt sind, und in die sie verändernd einzugreifen versuchen, bzw. die sich ihnen blockierend entgegenstellen. Bourdieu kann bei der Darstellung derartiger Strukturen und ihrer Entwicklungslogik auf einen Roman von Gustav Flaubert zurückgreifen, der sie ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen im Paris des 19. Jahrhunderts realistisch und detailliert nachbildet. Im klaren Bewusstsein der schwachen Position, in der sich Künstler befinden, hat Flaubert selbst kompromisslos eine eigene Form entwickelt, und kann daher als einer der Künstler gelten, die die Autonomie des Kunstfeldes erstmals etabliert haben. Finanziell unabhängig wie er war und über ein extrem hohes Bildungsniveau verfügend, leistete er sich die Radikalität, gegen die Erwartungen des durchschnittlichen Publikums und ihrer Repräsentanten (vor allem die Presse) zu schreiben. Natürlich mussten geeignete Umstände und ein spezieller Widerspruchsgeist zusammentreffen, um das neue Niveau künstlerischen Selbstbewusstseins mit der objektiven Legitimität auszustatten, auf die sich dann andere Künstler mehr oder weniger bis heute stützen können.
In dem Maße, wie Bourdieus Analyse des Entstehungsprozesses künstlerischer Autonomie wirklichkeitsnäher ist als etwa die der Systemtheorie, ergibt sich aus ihr eine höhere Sensibilität für die Gefahr der Wiederauflösung dieser Autonomie. Figuren wie Flaubert oder Baudelaire sind heute selten geworden, oder vielleicht erscheinen sie auch einfach nicht mehr auf der kulturellen Oberfläche. Während noch Sartre die Position des oppositionellen Intellektuellen durch die Gründung der ”Liberation” genauso wie durch seine Ablehnung des Nobelpreises uneingeschränkt wahrgenommen hat, scheinen heute auch KünstlerInnen, die es sich anders leisten könnten, mehr und mehr vor dem Gesetz des Showbusiness zu kapitulieren.
Moralische Argumente pflegen hiergegen wenig zu bewirken. Umso besser, wenn eine Theorie zur Verfügung steht, die die üblichen Meinungen und ihre unaufgelösten Widersprüche nicht durch mystische Verklärung oder Abwertung Andersdenkender verarbeitet. Nur fragt sich natürlich vor allem, was man bestimmten Tendenzen entgegensetzen kann. Dafür werden strategische Überlegungen, gute Einfälle und günstige Gelegenheiten zusammentreffen müssen, zu deren Findung allerdings die Kenntnis der Regeln der Kunst kein Hindernis darstellen dürfte.

Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Suhrkamp 1999, 550 Seiten, DM 98,-

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Michael Hauffen

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